Tod im Betongoldparadies

Alissa Ganijewa ätzt sich äußerst unterhaltsam durch das Panoptikum einer russischen Kleinstadt

  • Lesedauer: 10 Min.

In einer russischen Provinzstadt, eines Tages, es regnet in Strömen, setzt sich ein ausgesprochen nervöser Unbekannter zu Nikolaj ins Auto und steht nicht wieder auf … Das ist der Einstieg in ein Kaleidoskop aus überbordender Korruption, Dreiecksbeziehungen und detektivischen Rätseln. Wer ermordete den Minister für Regionalentwicklung Ljamzin? Wie kommt es, dass die frömmlerische Beamtin Natalja Petrowna in nichts als einem Korsett posiert? Und wie zieht sich der kleine Angestellte einer Baufirma, eben jener Nikolaj, aus der Affäre? Provinzglamour und verbitterte Künstler, Intrigen und Verführung, Leidenschaften unter dem Betonmantel einer rigiden Moral, das gewohnte Elend und bröckelnde Straßen, die Idioten von nebenan und die kleinen Freuden des Alltags - Gogols »Revisor« scheint im 21. Jahrhundert angekommen zu sein.

Die Autorin und der Übersetzer

Alissa Ganijewa, geboren 1985, wuchs in Machatschkala / Dagestan auf und lebt heute als Literaturkritikerin und Autorin in Moskau. Ihr preisgekröntes Debüt, die unter männlichem Pseudonym veröffentlichte Erzählung »Salam tebje, Dalgat« (Sei mir gegrüßt, Dalgat) über die Männergesellschaft in einer dagestanischen Provinzstadt löste heftige Reaktionen aus.Die Kritik lobte ihre Beschreibung des muslimischen Russlands, zugleich warf man ihr eine antireligiöse Haltung vor.

Johannes Eigner, geboren 1960 in Bad St. Leonhard, Kärnten. Studium in Graz (Rechtswissenschaften, daneben Übersetzer- und Dolmetscherstudium in Französisch und Russisch), 1985 Eintritt in den diplomatischen Dienst Österreichs; seit 2017 österreichischer Botschafter in Russland, zuvor österreichischer Botschafter in Serbien. Nach Übersetzungen slowakischer und serbischer Literatur ist dies seine erste Übersetzung aus dem Russischen.

Nikolaj saß gedrückt in einer Ecke des Büros der Beschaffungsabteilung und spitzte seinen Bleistift. Von morgens an erörterten die Kollegen die alptraumhafte Nachricht und drehten und wendeten ein und dasselbe in alle möglichen Richtungen. Die Vorgesetzten hatten sich irgendwo in den oberen Stockwerken eilends zu Beratungen zusammengefunden. Durch den plötzlichen Tod Ljamzins waren große Bauprojekte der Firma bedroht. Die Agenturen waren in Aufregung, im Internet spitzte man die Ohren.

»Sonderbar, dass er in dieser verlassenen Gegend ganz allein war«, brach es zum wiederholten Mal aus Anetschka hervor.

»Sonderbar, dass man ihn überhaupt gefunden hat«, erwiderte Stepan eifrig. »Der Kanaldienst kommt da sonst nie hin. Nicht einmal auf dem Hauptplatz haben sie es in drei Jahren geschafft, eine Stelle freizupumpen. Und nun sind sie auf einmal die ganze Stadt abgefahren, um die Auswirkungen des Regens zu begutachten. Hörst du, Kolja? Sie haben sich endlich besonnen. Sonst läge der Minister noch immer am Straßenrand und wär schon von den Hunden zerfressen.«

Nikolaj stammelte wirr vor sich hin. Beljaewa betätigte wie wild den Heftapparat. Alle in der Abteilung wussten, dass sie Haarausfall hatte. Büschelweise verlor sie die Haare. Sorgfältig verbarg sie die blanken Stellen mit einem Dutt. »Dutte und Perücken, wir kaufen Haare zu Bestpreisen«, stand auf einem Plakat im Lift des Hauses von Nikolaj. Die Tochter erzählte gestern beim Frühstück, dass man früher bei Hof morgens schwarze Perücken trug, tagsüber braune und abends weiße. Kontrastprinzip. Gestern beim Frühstück. Noch vor der Katastrophe … Die rotgeränderten Holzkringel fielen aus dem Spitzer, matt erglänzte die Bleistiftmine.

»Wie lang ist er denn dort gelegen?«, fragte Anetschka.

»Zum Teufel, es ist nicht zu fassen, wir haben noch zusammen den Bericht gelesen. Höchstens zwölf Stunden. Mehr wird vorerst nicht bekannt gegeben«, warf Stepan ein, während er im Zimmer hin und her ging. »Was meinst du, Kolja, ist er so gestorben oder hat man ihn ums Eck gebracht?«

»Er kann auch so gestorben sein …«, murmelte Nikolaj.

»Kennt ihr den?«, grinste Stepan und fuhr fort, wie immer, ohne die Antwort abzuwarten: »Eine Banane und eine Zigarette streiten sich, wessen Tod schrecklicher sei. Die Banane sagt: ›Mein Tod ist grauenvoll. Man zieht mir die Haut ab und verspeist mich lebendig.‹ Darauf die Zigarette: ›Das ist noch gar nichts. Mir zünden sie den Kopf an, und dann saugen sie am Hintern, damit der Kopf weiterbrennt‹.«

Stepan wieherte mit krächzender Stimme los. Anetschka wurde rot. Beljaewa presste die Lippen zusammen und rüttelte empört an den Tischladen.

»Und habt ihr den schon gehört?«, kam Stepan in Fahrt, ohne sie zu beachten. Er ging weiter hin und her, von Ecke zu Ecke. »In der Wohnung eines Mannes tauchte an der Decke ein schwarzer Fleck auf, am nächsten Tag starb der Mann an einem Herzinfarkt. Dann das Gleiche in einer anderen Wohnung - der Bewohner bemerkte einen schwarzen Fleck an der Decke, und am nächsten Tag starb er an einem Herzinfarkt. Und dann tauchte in der Wohnung von Iwanow ein Fleck auf …«

»Mir reichen diese Witze«, seufzte Anetschka laut auf.

»Also ein Fleck bei Iwanow«, fuhr Stepan lauter werdend fort. Der ruft bei der städtischen Hausverwaltung an. ›Hallo, ich hab da einen schwarzen Fleck an der Decke. Kann man das richten? Gut. Und was kostet das?‹ Man antwortete ihm etwas. ›Wie viel?‹, fragte Iwanow nochmals - und starb an einem Herzinfarkt.»

Stepan grunzte wieder vor Vergnügen.

«Wenn Sie sterben, Stepan, werde ich auch lachen», sagte Beljaewa in schneidendem Ton, stand auf und ging aus dem Zimmer. Am Gang war lebhaftes Stimmengewirr zu vernehmen, ein lautes Durcheinander von Männerstimmen, durchschnitten von Stöckelschuh-Geklapper. Anetschka sprang zur Tür, trippelte dem Haufen nach, steckte dann den Kopf zur Tür herein, um in düsterem Flüsterton zu verkünden: «Die Semjonowa ist gekommen!» Und verschwand wieder.

«Also, wenn die Generaldirektorin da ist, heißt das, dass es brennt», schloss Stepan und setzte sich zu Nikolaj.

Der war mit dem Bleistiftspitzen fertig und klimperte nun stumpfsinnig mit den Lidern, während er auf den vor ihm liegenden Tischkalender schaute, auf dem unten die Monate standen und oben unter der Überschrift «Russlands treue Söhne» vor dem Hintergrund goldener Kuppeln Recken in den Sonnenuntergang ritten.

Stepan blickte zu Nikolaj, seufzte und fragte ihn ganz leise: «Weißt du wohl, dass sie unsere Semjonowa zum Verhör vorgeladen haben?»

Nikolaj riss es: «Wozu?»

«Was heißt da, wozu? Ljamzin war ja ihr Liebhaber. Hast du das nicht mitbekommen?»

Schon eine ganze Zeit lang hatte Nikolaj von solchen vagen Anspielungen und Gerüchten gehört, und dennoch ist es ihm während der ganzen letzten, schlaflosen Nacht kein einziges Mal in den Kopf gekommen.

«Und weiter?» Er fixierte Stepan.

«Nun, gestern hat sie ihn anscheinend bei sich erwartet. Ljamzin hat seinen Chauffeur heimgeschickt und ist mit dem Taxi zu ihr gefahren. Und ist auch, so scheint es, dort angekommen. Aber zu ihr hinaufgegangen ist er nicht. Semjonowa hat vergeblich auf ihn gewartet. Angeblich. Vielleicht flunkert sie auch. Jetzt wird sie sich wohl beeilen, die Dokumente zu verbrennen.»

«Welche Dokumente?»

«Kolja, stell dich nicht so blöd», Stepans Geplapper wurde immer schneller und schneller, «warum, glaubst du, haben wir die fettesten Aufträge bekommen? Ljamzin hat alle anderen Angebote mit irgendwelchen Begründungen ausgeschieden. Einmal passten die Fristen nicht, ein andermal die Formalitäten. Und wir blieben als Sieger übrig. Die Eishalle - wir, das neue Spital - wir, die Renovierung des Bahnhofs, bei der wir drei Jahre herumgetan haben - auch unser Auftrag. Und diese Brücke für den Schwerverkehr, du erinnerst dich …»

«Ja, natürlich. Da hat sich auf einmal herausgestellt, dass der Grund und Boden nicht der Stadt gehört. Der musste schwarz abgekauft werden.»

«Genau, und wem?», zwinkerte Stepan verschmitzt.

«Woher soll ich das wissen.»

«Der Semjonowa! Auf dem Papier halt dem Ehemann der Schwester. Sie hat also zweimal aus dem Budget scheffeln können. Für das Grundstück und für den Auftrag. Und Ljamzin war dabei behilflich. Er hat aber auch an sich gedacht und sich einen kleinen Kick-Back genehmigt.»

«Und wieso haben sie ihn bis jetzt nicht zerrissen?», fragte Nikolaj erstaunt, nachdem er erst so richtig begriffen hatte.

«Es sieht ja ganz so aus, dass sie ihn eben zerrissen haben. Ljamzin balancierte zuletzt am Abgrund dahin. Unser Abteilungsleiter hat mir heute gesteckt, dass es so Gerüchte gab, man habe den Toten mit, na wie sagt man, mit anonymen Anschuldigungen verfolgt. So nach der Art - wir wissen alles, wir werden alles an die zuständige Stelle weitergeben. Dem Gouverneur berichten. Oder halt so ähnlich. Und da hat er das Sausen bekommen.»

«Das heißt, der Denunziant hat ihn auch umgebracht?», stieß Nikolaj hervor.

Stepan schnalzte mit der Zunge und machte eine abwehrende Handbewegung: «Das sind bloß Gerüchte, und du halt besser still.»

Am Gang waren wieder von fern her Stimmen zu hören, Schritte, undeutliches Rufen. Stepan stand auf, öffnete einen Spalt breit die Tür, schaute hinaus, zuckte mit den Schultern und eilte an seinen Arbeitsplatz zurück, wo er mit der Computermaus fahrig nach neuen Nachrichten suchte. Auch Nikolaj hatte seinen Blick auf den Computer gerichtet, auf die Seite des Stadtforums. Man diskutierte den Mord am Minister. Aber er konnte sich nicht konzentrieren, sein Blick war abgelenkt. «Altersfett? - im Handumdrehen weg mit dem ganz gewöhnlichen, günstigen …», sprang ihn ein grelles pulsierendes Bild am Rand an. «Um mit 65 wie 43 auszusehen, machen Sie sich zur Angewohnheit, 10 Minuten vor dem Schlaf …», endete unvollständig ein anderes Bild. Überall blitzten hängende Hüften, rosa Warzen und dreifach aufgeblasene Frauenbrüste.

«Step, es ist ja Mittagspause. Ich habe der Tochter versprochen, gemeinsam zu essen», sagte Nikolaj schließlich und riss sich vom Bildschirm los. «In einer Stunde bin ich wieder da.»

Nikolaj zog geschwind seinen Mantel an und ging hinaus auf die Straße. Es war windig, kühl und feucht. Vereinzelt schlugen ihm Tropfen ins Gesicht. Der Himmel war wie in einzelne graue Schwaden zerfetzt. Nikolaj erinnerte sich an Ljamzins verlorenen Blick. Es stimmt also, dass man ihn verfolgt hat. Das war keine Paranoia, ganz im Gegenteil. Oder ist das «ganz im Gegenteil» auch eine Diagnose? Wohl Pronoia. Wenn man an Verschwörer glaubt, die einen nicht vernichten, sondern retten wollen. Es kam ihm sonderbarerweise die Geschichte eines Musiklehrers in Kroatien in den Sinn, der ein Zugunglück, einen Zwischenfall mit einem Flugzeug und drei Autounfälle überlebt hat. Zweimal hat es bei ihm gebrannt, einmal ist er in eisiges Wasser gefallen. Er stürzte in eine Schlucht und konnte sich an einem Baum festhalten. Eine unglaubliche Rettung.

Ein einbeiniger junger Mann auf alten Holzkrücken und in Uniform verstellte Nikolaj den Weg. Die unförmigen Gummi-Enden der Krücken steckten im Schlamm, auf der Brusttasche der Jacke trug er ein St.-Georgs-Band, seine von Brandwunden vernarbte Stirn war faltig wie ein Harmonika.

«Haben Sie eine Zigarette für einen Donbass-Veteranen?», bat der Einbeinige höflich.

«Ich rauche nicht», antwortete Nikolaj, wich achtsam rechts am Veteranen vorbei und ging weiter zu seinem Auto.

«Hör zu, du Sauhund», der Veteran stampfte mit seinen Krücken, «während du im Hinterland deinen Arsch gewärmt hast, habe ich unsere gemeinsame Heimat verteidigt, verstanden?»

«Verstanden», antwortete Nikolaj gefügig, während er in der Tasche nach dem Autoschlüssel kramte.

«Ich habe für solche Russen wie dich mein Bein geopfert.»

«Ich habe Sie nicht darum gebeten», antwortete Nikolaj.

«Gib mir etwas, damit ich mir Prothesen leisten kann, guter Mann. Für Medikamente gib mir was! Die Bürohengste haben uns Veteranen im Stich gelassen! Sie haben uns beschissen und sich dann verpisst. Spende ein paar Tausend, hör doch!» Die Stimme des Bettelnden wurde auf einmal ganz gütig und weich.

Nikolaj stieg schweigend ins Auto, während der Veteran ihm immer lauter hinterherschrie und dabei in wüstes Geschimpfe kippte.

«Du bist ja um nichts besser als diese Faschisten, du Häuslbrunzer. Ich merk’ mir deine Nummer, du Dreckschwanz, verstanden? Ich bin nicht allein, wir sind viele! Die Motorhaube werden wir dir zerkratzen, du Schwuchtel …»

Die weiteren Drohungen verloren sich im Knattern des gestarteten Motors. Nikolaj reversierte langsam. «Faschist, Faschist!», war von Neuem das Geschrei des Veteranen zu hören, und der Wagen fuhr vorsichtig aus dem Hof, in dem noch tief das Wasser vom gestrigen Dauerregen stand. Im Rückspiegel zitterte das Bild des Einbeinigen. «In zehn Jahren», so dachte Nikolaj, «wird man Gliedmaßen künstlich nachwachsen lassen können, für die, die Geld haben.» Man braucht nur das Bein eines Toten. Als Karkasse. Dann werden Muskelzellen des Empfängers injiziert, es kommt in eine Art Brutkasten, Sauerstoff dazu … Hätte man Ljamzin wiederbeleben können? Künstliche Beatmung. Nikolaj hat es nicht einmal versucht.

Alissa Ganijewa
Verletzte Gefühle
Aus dem Russischen von Johannes Eigner
Wieser Verlag
252 S., geb., 21,00 €

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