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Keine Chance auf Asyl

Zwei politisch Verfolgte aus der Türkei scheitern an kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der deutschen Behörden

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 8 Min.

ist ein besonders warmes Wochenende in Ingolstadt, die Cafés der Innenstadt sind voller Menschen, die den Sommer genießen. Doch für zwei unter ihnen könnte es das letzte Wochenende hier sein – und es könnten auch die letzten Tage in Freiheit sein. Sinem Mut (29) und Anıl Kaya (32) reisten im März 2019 aus der Türkei nach Deutschland, in der Hoffnung, in Sicherheit zu sein. Nun sollen sie in die Türkei abgeschoben werden, wo ihnen mehr als sechs Jahre Gefängnis drohen.

In einem Gerichtsverfahren, das seit 2014 gegen sie und andere politische Aktivist*innen in Ankara lief, sollte im März 2019 das Urteil gefällt werden. Aus reiner Vorsicht wollte das junge Paar die Gerichtsentscheidung aus sicherer Entfernung abwarten. Sinem Mut erinnert sich, dass sie fest mit einem Freispruch rechnete. Angeklagt wurden sie wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung«, tatsächlich waren sie aktiv in der damals legalen »Föderation für Demokratische Rechte Ankara« (Ankara Demokratik Hakları Federasyon). Ihre Teilnahme an öffentlichen Demonstrationen wie dem 1. Mai oder dem Frauentag sowie das Aufhängen von Plakaten wurden zu Beweisen für ihre angebliche Mitgliedschaft in der illegalen MKP, der Maoistischen Kommunistischen Partei. Entgegen ihrer Hoffnung fällte das Gericht ein hartes Urteil: eine Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten, trotz Mangels an Beweisen. Sinem Mut und Anıl Kaya waren gezwungen, in Deutschland Asyl zu beantragen.

Ablehnung beim BAMF

»Da wir gar nicht geplant hatten, einen Asylantrag zu stellen, sind wir nur mit einem kleinen Koffer hergekommen, ich hatte eine Hose und ein paar Kleider dabei, wie für den Urlaub eben«, erzählt Sinem Mut. Auch das Asylsystem in Deutschland und die Funktionsweise des föderalen Systems waren ihnen bis dato unbekannt. »Was es bedeutet, in Bayern und nicht in Berlin oder Köln zu leben, haben wir erst hier verstanden.«
Ihre Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schildern sie als äußerst willkürlich: Der Beamte, dessen Name bereits unter anderen Geflüchteten in ihrer Sammelunterkunft als sicheres Zeichen für eine Ablehnung bekannt war, stellte Fragen, die selbst die türkische Justiz verärgern würden. »Warum das Verfahren gegen uns erst 2014 eröffnet wurde, obwohl wir 2012 bereits nach einer Hausdurchsuchung in Untersuchungshaft waren; ob wir das Gerichtsurteil gegen uns selbst gestempelt hätten und warum Sinem Mut an der Universität arbeiten durfte, obwohl sie ja als Terroristin angeklagt wurde, wollte er von uns wissen.« Schnell wird deutlich, dass trotz fadenscheiniger Argumente des türkischen Gerichts die dortige Rechtssprechung als legitime Grundlage für das Asylverfahren in Deutschland gewertet wird.

Während die beiden ein Jahr lang im Flüchtlingsheim leben, Deutschkurse besuchen und von ihren ebenfalls geflüchteten Mitangeklagten erfahren, dass deren Asylanträge in anderen Bundesländern und in der Schweiz positiv entschieden wurden, haben sie Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland. Doch dann erreicht sie im Mai 2020 der Ablehnungsbescheid, der auch dem »nd« vorliegt. Darin kommen die Beamten zunächst zu dem Schluss, dass das vorgelegte Gerichtsurteil gefälscht sei. Wer jedoch die türkische Bürokratie kennt, der weiß, dass der sogenannte elektronische Staat, ein zentrales Onlineportal, Auskunft über alle offiziellen Angelegenheiten der Staatsbürger gibt. Normalerweise wird dies auch in deutschen Asylverfahren genutzt, doch Anıl Kaya erinnert sich, dass der Beamte abwinkte, als er ihm die Zugangsdaten geben wollte.

Des Weiteren sieht die Behörde auch in der Zugehörigkeit zur kurdischen und alevitischen Volksgruppe keinen Grund für Schutzbedürftigkeit. In seiner politischen Einschätzung der Lebensumstände von Kurd*innen in der Türkei kommt das BAMF zu dem Schluss, dass diese Volksgruppe »keinen landesweiten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt« sei. Die Gerichtsurteile, auf die das BAMF für diese Aussage verweist, stammen aus den frühen 2000er-Jahren. Dass »keine Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung« vorliegen, kann nur behaupten, wer die zahlreichen Berichte von Angriffen auf Kurd*innen in der Türkei, das eingeleitete Parteiverbot gegen die pro-kurdische HDP oder die Inhaftierung von deren Mitgliedern und Abgeordnet*innen ignoriert. Ebenso findet das BAMF trotz dreiseitiger Schilderung der systematischen und alltäglichen Diskriminierung von Alevit*innen, dass diese »nicht schwerwiegend genug« und daher hinnehmbar sei. Obwohl auch im Ablehnungsbescheid erwähnt wird, dass weiterhin Einzelfälle von körperlicher Misshandlung und psychischen Drucks in türkischen Gefängnissen zur Anzeige gebracht werden, geht man davon aus, dass die Antragstellenden nicht von Folter bedroht seien. Gegenüber dem »nd« will sich die Behörde zu ihren Einschätzungen nicht äußern.

Die beiden Geflüchteten aus der Türkei haben dem widersprechende Erfahrungen gemacht. Sinem Mut erzählt, dass sie während ihrer zweimonatigen Untersuchungshaft 2012 zweimal vom Sicherheitspersonal misshandelt worden sei. Eine Kommission der größten Oppositionspartei CHP, die solche Menschenrechtsverletzungen untersucht, hatte sie und andere Studierende damals im Gefängnis besucht und darüber berichtet.
»Während uns das BAMF für nicht politisch genug hielt, empfand uns das Gericht in Augsburg, bei dem wir anschließend Widerspruch einlegten, wiederum als besonders aktiv«, sagt Anıl Kaya lachend, nicht weil es lustig wäre, sondern weil der Fall spätestens ab diesem Zeitpunkt absurd wird.

Das Verwaltungsgericht in Augsburg urteilte jedenfalls, dass das Strafverfahren in Ankara legitim gewesen sei. Dabei gab es in dem Prozess nur ein einziges Beweisstück, nämlich ein Mitgliedschaftsausweis der MKP, der in Sinem Muts Wohnung gefunden wurde. Nach Angaben der Verurteilten handele es sich dabei um eine Fälschung, was auch das türkische Gericht so eingeschätzt habe.

Selbst den Freispruch von angeblichen Übergriffen gegen türkische Sicherheitskräfte stellt das bayerische Gericht indirekt infrage. Aufgrund »gewaltbereiter Vorbilder« sei es nicht überzeugend, dass Sinem Mut und ihre Vereinsgenossen nur mit friedlichen Mitteln ein »demokratisches, laizistisches und freiheitliches Gesellschaftssystem in der Türkei einführen« wollten, hieß es. Ihr Vorbild sei der in den 1970er-Jahren unter Folter ermordete İbrahim Kaypakkaya, Gründer der maoistischen TKP/ML.

Auf diese Argumentation kam das Gericht in Augsburg jedoch nicht alleine. Kurz vor der ersten Verhandlung in Augsburg im April dieses Jahres schickte das BAMF einen Brief an das Gericht, der dem »nd« vorliegt. Darin heißt es, Sinem Mut sei eine »politische engagierte«, Anıl Kaya sogar eine »äußerst politisch aktive« Person. Die Argumentation, die beiden verfolgten trotz Mangels an konkreten Beweisen das ideologische Ziel einer »gewaltsamen Zerschlagung des türkischen Staates«, findet sich in diesem Schreiben – zur deutlichen Hervorhebung – eingekreist.

Die Gefährdungslage hat sich erhöht

»Nach dieser Entscheidung blieb uns nichts anderes mehr übrig, als an die Öffentlichkeit zu gehen«, sagt Anıl, sichtlich erschöpft von der zweistündigen Erzählung ihrer Geschichte. »Aber wir wussten nicht, wo wir anfangen sollten. Wir kennen hier kaum jemanden, durch die Corona-Pandemie fiel es uns zusätzlich schwer, Kontakte aufzubauen.«

Bekannt für seine täglichen Berichte über die Türkei und Kurdistan ist der Kommunikationswissenschaftler und Aktivist Kerem Schamberger aus München. Als Anıl Kaya und Sinem Mut ihn kontaktieren, erhält ihr Fall öffentliche Aufmerksamkeit – nicht nur wohlwollende. Auf Twitter kommentiert der AfD-Abgeordnete Harald Laatsch aus dem Berliner Abgeordnetenhaus, der Fall der beiden lege dar, »wie Migranten unseren Staat bis aufs Letzte missbrauchen«. Sinem Mut sagt, sie könne sich solche Kommentare gar nicht angucken, vor allem von türkischen Accounts beinhalten sie oft auch sexualisierte Beleidigungen und Drohungen. Für Kerem Schamberger ist klar, dass sich durch die Angriffe in den sozialen Medien die Gefährdungslage für die beiden noch einmal erhöht hat. »Aus der Sicht des AKP-Regimes war das erste Vergehen, die Türkei zu verlassen und sich der Justiz zu entziehen. Dann sprechen sie sich im Exil gegen das Regime aus«, meint Kerem Schamberger. Auch die heftigen Reaktionen in den sozialen Medien seien Ausdruck davon, dass sie im Visier sind, meint er. »Das wäre sogar ein weiterer Asylgrund.«

Doch neben diesen Angriffen gebe es auch viel Solidarität, berichtet Sinem Mut. »Mich rufen Menschen an, die ich gar nicht kenne, und drücken ihre Unterstützung aus. Es ist ein gutes Gefühl, nicht alleine zu sein.«

Auch Kerem Schamberger hat bereits Erfahrungen mit dem Rechtssystem in Bayern gemacht, das – so scheint es ihm – linke Aktivisten oft härter verfolgt. Warum gerade hier das BAMF keinen Grund für Asyl sehen will, ist auch ihm nicht ganz klar. Ein Grund, warum gerade bayerische Behörden des Öfteren hart gegen Geflüchtete aus der Türkei vorgehen, ist laut Kerem Schamberger auch die wirtschaftliche Bedeutung des Landes. »Bayern ist ein Wirtschaftsstandort von transnationalen Konzernen, beispielsweise Siemens, die auch in der Türkei Interessen haben. Deshalb gibt es sowohl auf der wirtschaftlichen als auch auf der politischen Ebene enge Verbindungen.«

Im Laufe des Verfahrens wird immer wieder deutlich, dass die politische Dimension weit über die zwei Einzelpersonen hinausreicht. Das Signal, das gesendet werden soll, ist offenbar, dass die Rechtsprechung gegen linke Aktivisten in der Türkei auch vor den deutschen Gerichten Bestand hat, und sei sie noch so gegenstandslos. Zudem zeigt das Verfahren, dass die Entscheidenden beim BAMF nicht nur willkürlich über das Schicksal von Geflüchteten verfügen, sondern durchaus dem Gericht auch Argumentationsvorlagen liefern.

Sinem Mut und Anıl Kaya hoffen nun, über ihren Anwalt einen Folgeantrag auf Asyl stellen zu können. Seit mittlerweile neun Jahren leben sie in Ungewissheit, in der für sie nichts planbar ist. »In der Türkei wollten wir eigentlich heiraten, dann kamen wir hierher«, erzählt Sinem Mut. »Nun können wir uns nicht entscheiden, ob es sich lohnt, ein neues Sofa für unsere Wohnung zu kaufen, denn wer weiß, wie lange wie noch bleiben dürfen.«

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