Nicht alle Macht der Regierung

Wolfgang Kubicki zieht eine abwägende und dennoch klar positionierte Bilanz der Coronabekämpfung. Der liberale Politiker und Jurist prangert an, dass sich die Regierung bei ihren Maßnahmen über Grundrechte hinwegsetzt, anstatt beides zusammenzubringen

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 7 Min.

Wolfgang Kubicki muss man wirklich nicht mögen. Mit Parteifreund Christian Lindner praktiziert er eine öffentliche Arbeitsteilung: Während der FDP-Vorsitzende seine Worte mit Bedacht wählt und stets höflich bleibt, ist sein Stellvertreter das polternde und polarisierende Raubein. In den Castingabteilungen der Talkshows steht der Vizepräsident des Bundestages daher regelmäßig auf dem Besetzungszettel. Bei Fernsehauftritten gibt er den unverbesserlichen Macho, in »Hart aber fair« verbündete er sich einst mit der Schauspielerin Sophia Thomalla, als diese mit dümmlichen Sprüchen zur Frauenemanzipation gegen die feministische Netzaktivistin Anne Wizorek Stimmung machte. Zusatzverdienste generiert der studierte Jurist als Strafverteidiger von Wirtschaftsbossen, trotz Parlamentssitzen in Kiel und Berlin hat er lukrative Nebentätigkeiten nie aufgegeben. Er gilt als Interessenvertreter der Glücksspielbranche, zu seinen Mandaten gehört der wegen Beteiligung an Cum-Ex-Geschäften angeklagte Manager Hanno Berger. Er beriet die Regierung der Steueroase Liechtenstein und vertrat den der Korruption beschuldigten früheren VW-Vorstand Hans-Joachim Gebauer.

Kubicki ist kein Sympathieträger, auch politisch nicht, in der Coronakrise aber zeigte er von Anfang an Rückgrat. Er wandte sich gegen die ausschließliche Berufung auf übertrieben apokalyptische Prognosen, kritisierte die tiefgehende Verletzung von Grundrechten durch Bundesregierung und Länderchefs, monierte das Übergehen des Parlaments durch eine selbstherrliche, außer Kontrolle geratene Exekutive. Unter dem Titel »Die erdrückte Freiheit« hat er nun ein lesenswertes Buch darüber veröffentlicht, »wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt«, so der Untertitel. In bester liberaler Tradition beharrt Kubicki auf dem »Wert der Verfassung« und den Prinzipien des Grundgesetzes - mit denen es andere politische Repräsentanten in Pandemiezeiten nicht so genau nehmen. Es lohnt sich, mit dem Buch noch einmal der Chronologie der Ereignisse aus der Sicht eines Insiders zu folgen.

Das fragwürdige »Wir«

Kubicki zeigt viel Verständnis für die Unsicherheit nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter den Regierenden im März 2020 - nach den Bildern aus Wuhan oder Bergamo. Zwar missfällt Kubicki schon in dieser Anfangsphase der Pandemie die systematische, durch ein Papier des Bundesinnenministeriums früh dokumentierte Strategie erwünschter Panik. Doch bricht seine Loyalität erst im vergangenen Herbst richtig ein: mit der Ankündigung des zweiten, dann faktisch mehr als ein halbes Jahr dauernden Lockdowns.

Zu Tage tritt da eine »Salami-Taktik«, die Schließungen werden ständig verlängert und verschärft, mit verheerenden Folgen vor allem für das Bildungssystem, für Gastronomie, Läden und Veranstaltungsbranche. Deutlich wird zudem eine paternalistische Haltung, die ein fragwürdiges »Wir« beschwört: »Wenn ihr jetzt noch vier Wochen brav seid, können wir alle gemeinsam Weihnachten feiern.« Ebenso offensichtlich ist die einseitige Beratung der Regierenden durch eine naturwissenschaftlich geprägte Expertise, einen vielfach geforderten interdisziplinären Pandemierat gibt es bis heute nicht. Die hofierten Fachleute grenzen Widerspruch aus der eigenen Profession gezielt aus, mathematische Extrapolationen steiler Ansteckungskurven prägen einen Tunnelblick, allgemeine Kontaktbeschränkungen gelten quasi als alternativloses Mittel.

Die Stärke des Buches liegt in dem konsequenten Festhalten an juristischen Grundsätzen. In kontroversen Debatten sei er immer wieder mit dem Argument konfrontiert worden, »Verfassungsrecht und Gemeinwohl stünden sich geradezu diametral gegenüber«, schreibt Kubicki. Dabei geht es um die Vereinbarkeit von beiden, auch wenn das schwierig ist. Die Beendigung des Ausnahmezustands sei »deshalb nicht mit vollem Ernst« betrieben worden, weil er »eine bequemere Art des Regierens ermöglicht«. Die Politik glaubt, zentrale Freiheitsrechte kurzerhand ignorieren und zeitweilig außer Kraft setzen zu können. Angela Merkels Satz »Das Virus lässt nicht mit sich nicht verhandeln« begründete eine scheinbare Alternativlosigkeit. Doch Kubicki wendet ein: »Auch mit unserer Verfassung lässt sich nicht verhandeln.«

Als zentrales Instrument diente das Infektionsschutzgesetz, »das über lange Zeit ein Eremitendasein fristete«, nun aber Taktgeber einer Entwicklung wurde, die »die Mütter und Väter des Grundgesetzes sicher nicht im Hinterkopf hatten«, so Kubicki. Unter Berufung auf Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes, der nur in sehr gut begründeten Ausnahmefällen die Möglichkeit einräumt, die Rechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung einzuschränken, bekamen die Entscheidungsträger »enorme Verantwortung übertragen, die einherging mit einer nicht minder großen Entscheidungsgewalt« - ohne die Frage der Verhältnismäßigkeit ernsthaft zu berücksichtigen. Das führte nach Kubicki zu »inakzeptablen Überschreitungen, unerlaubten Kompetenzaneignungen und Amtsanmaßungen«. Wer in dieser Situation auf die Verfassung als »Fundament unserer Gesellschaftsordnung« hinwies, wurde »als Rechtsverdreher, Aluhuträger oder Menschenfeind beschimpft«.

Der Autor kritisiert die Ausgrenzung Andersdenkender, die »Verächtlichmachung des Widerspruchs« - die sich etwa in der Reaktion auf die satirischen Videos protestierender Schauspieler zeigte - und die »Höherstellung einer sicher gut gemeinten Moral über das Recht«. Das Argument, in der Pandemie müsse es eben auch mal anders gehen, sei »ebenso falsch wie gefährlich«. Die Regierten hätten ein »Recht auf Renitenz«. Das Grundgesetz vertraue auf Eigenverantwortlichkeit, »behördliche Erziehungsleistungen werden nicht abgedeckt«. »Der Bürger darf alles tun, was nicht ausdrücklich verboten ist, der Staat hingegen darf nur tun, was ihm ausdrücklich erlaubt wurde.« Risiken, auch die einer Pandemie, seien der »Preis der Freiheit«, zitiert Kubicki den Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann: »Eine Welt ohne Risiko ist eine Welt ohne Freiheit.« In der Risikogesellschaft, wie es der Soziologe Ulrich Beck nannte, ist das Nullrisiko eine gefährliche Illusion, nur erreichbar durch den vollständigen Zugriff des Staates auf die Bürger. Doch ein Politiker dürfe sich »nicht zum Schutzpatron aufschwingen, der den Anspruch hat, sämtliche Lebensgefahren beiseite zu räumen«, so Kubicki. Selbst eine Bundeskanzlerin könne keineswegs willkürlich »über die Zuteilung von gesellschaftlichen und individuellen Freiheiten verfügen«.

Und täglich grüßt der Lauterbach

Kubickis gut 130 Seiten starker Essay über »exekutiven Unwillen« und »Staatsversagen« wurde im Juni 2021 abgeschlossen. Wie alle bisherigen Buchveröffentlichungen zur Pandemie ist er eine Momentaufnahme, die leider ihre Aktualität behalten dürfte. Denn trotz der Entspannung der Lage durch immer noch sehr niedrige Inzidenzen, wenige Hospitalisierungen und viele Impfungen werden bereits neue Eingriffe in Grundrechte vorbereitet, während in Nachbarländern wie Dänemark alle Maßnahmen aufgehoben werden. Jens Spahn warnt in Dauerschleife vor der »noch ansteckenderen« Delta-Variante, Lothar Wieler zieht seine Sorgenfalte und täglich grüßt der Lauterbach. Alarmistische Modellierungen, die sich vor allem in der »dritten Welle« um Ostern herum als vollkommen übertrieben herausgestellt haben und nicht allein mit Verweis auf das »Präventionsparadox« zu erklären sind, machen erneut Schlagzeilen. Die »epidemische Lage von nationaler Tragweite«, die Voraussetzung für Eingriffe in die Grundrechte, hat die Regierung im Juni ohne jede Not bis nach der Bundestagswahl verlängert, FDP und Linkspartei stimmten dagegen. Und erst diese Woche wurde eine weitere Verlängerung beschlossen, gegen die Stimmen von FDP, Grünen und Linkspartei, die dafür keine Grundlage mehr sehen.

Trotz einer zumindest in den letzten Monaten wirksamen Impfkampagne, eines inzwischen nahezu bestmöglichen Schutzes besonders gefährdeter älterer Menschen und wenig belegter Krankenhäuser gelten Richtwerte bei der Meldeinzidenz wie 10, 35, 50 oder 100 stur weiter - und ermuntern die nachgeordnete Verwaltungsbürokratie, rigide zu reglementieren. Eine Abkehr davon scheint nur langsam einzutreten, wie die Ankündigung von Gesundheitsminister Jens Spahn zur 50er-Inzidenz diese Woche zeigte. Andernfalls könnten ohne weitere Begründung - vor allem ohne eine tatsächlich bevorstehenden Kollaps des Gesundheitssystems, der erklärtermaßen verhindert werden soll - also auch wieder Schulen und Kitas zugesperrt, Veranstaltungen abgesagt, Kontakte beschränkt, »Verweilverbote« ausgesprochen oder Ausgangssperren verhängt werden. Verbesserungen im Gesundheitssystem hat die Regierung derweil nicht veranlasst. Die Drohszenarien funktionieren nach wie vor, CDU, SPD oder Grüne brauchen sich kaum Sorgen um ihre Wahlchancen zu machen. Doch die Regierten haben einen Anspruch, von der Regierung aufgeklärt und mündig behandelt zu werden - unter Berücksichtigung ihrer Rechte. Die Beschränkung staatlicher Macht gehört zur Demokratie. Es verstört, dass ein FDP-Politiker Klartext redet und die Linke weitgehend schweigt.

Wolfgang Kubicki: Die erdrückte Freiheit. Wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt. Westend Verlag, 128 S., br., 14 €.

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