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Lügen und andere Wahrheiten

Wie kommt es, dass die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird? Die Psychoanalytiker Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder versuchen sich mit einem Sammelband an einer Antwort

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 9 Min.

Meinungsmanipulation: Bei Manchen schrillen schon bei diesem Wort die Alarmglocken. Allein durch die Vorstellung, in ihren Ansichten nicht frei zu sein, fühlen sie sich degradiert. Dass hinter den Kulissen die Fäden gezogen würden für ein Geschehen, das sich ihrem Einfluss entzieht - dieser Gedanke könnte sie doch zu Marionetten machen, sie resignieren und hilflos werden lassen. Keinesfalls wollen sie zu denen gehören, die sie sich irgendwelchen »Querdenkern« und »Wutbürgern« anschließen, gar nicht mehr zur Wahl gehen und nur noch räsonieren.

Aber solche Leute gibt es massenhaft. Wie können Linke mit ihnen umgehen, wie können sie sich behaupten? Wie vieles möchte ich Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder fragen, wenn sie am 1. September beim nd-Literatursalon zu Gast sind. Als Herausgeber des Bandes »Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird« scheinen sie mir in diesem Sinne besonders kompetent, weil sie Meinungsmanipulation nicht lediglich aufgeregt anprangern, wie es Journalisten gern tun und Recht damit haben im Sinne demokratischen Engagements. Denn als Psychoanalytiker brauchen sie einen illusionslosen Blick auf Menschen in ihrer persönlichen Verwurzelung und ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Und sie haben Marx und Engels gelesen, was heute nicht einmal für Politologen selbstverständlich ist.

Dass »die herrschenden Gedanken« die »Gedanken der Herrschenden« sind, mit dieser Feststellung aus der »Deutschen Ideologie« beginnt das Buch. Dass »die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist«, zugleich »über die Mittel zur geistigen Macht« disponiert, mag bezogen auf heutige Verhältnisse holzschnittartig erscheinen. Die Unsichtbarkeit der »Herrschenden« hinter dem Vorhang von Parteiengerangel und die offensichtliche Differenziertheit geistigen Lebens lassen vielfach vergessen, dass es Ideologie überhaupt gibt. Wie sie hierzulande hinter einer verhimmelten Gedankenfreiheit und symbolischer Anerkennung von Subjektivität gleichsam verschwindet, dient der Abgrenzung zu »autoritären Regimen«, denen »die offene Gesellschaft« entgegensteht.

Karl Popper und die offene Gesellschaft

Beim Lesen fällt einem der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902-1994) ein, der mit seinem Hauptwerk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« von 1945 eine wirkmächtige Illusion bezüglich des westlichen Kapitalismus in die Seelen pflanzte. Indem er die eben besiegte Nazi-Diktatur mit dem Stalinismus zusammenbrachte, was nur unter völliger Ausblendung ökonomischer Eigentums- und Machtverhältnisse gelang, lieferte er jene Gut-Böse-Struktur, die in Fortsetzung des Kalten Krieges bis heute die geopolitischen Interessen westlicher Politik verdeckt. Ein einfaches moralisches Welterklärungsmodell für den deutschen Außenminister ebenso wie für manche Linke, die sich mit ihren Freiheitsvorstellungen im Herzen vor einen fremden Karren spannen lassen, was sie allerdings niemals zugeben würden. Aber so wirkt eben Ideologie: Sie verwächst mit dem Ich.

Zahlreiche Veröffentlichungen zu Macht und Ideologie gibt es zurzeit im Frankfurter Westend Verlag: »Warum schweigen die Lämmer« und »Angst und Macht« von Rainer Mausfeld, »Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst« von Albrecht Müller, »Lügen die Medien?« von Jens Wernicke, jüngst auch »Mega-Manipulation«, herausgegeben von Ulrich Mies. Dass wichtige Entscheidungen von politisch-ökonomischen Gruppierungen getroffen werden, die weder demokratisch legitimiert noch demokratisch rechenschaftspflichtig sind, wird auch in dem hier besprochenen Buch kritisiert, aber es wird, dem marxistischen Ideologiebegriff folgend, in weiten Teilen auch nüchtern vorausgesetzt. Wie das konkret geschieht, ist die spannende Frage.

»Die Meinungsbildung geschieht in einer Gesellschaft auf vielen verschiedenen Wegen, über diverse öffentliche Medien, über institutionelle Sozialisationsagenturen aller Art vom Kindergarten, zur Schule und Universität, Familie, Kirche, Justiz, über Arbeitsprozesse, Konsum, Kulturereignisse, oder auch direkt über Werbeagenturen, Think Tanks, Lobbygruppen.« Was Almuth Bruder-Bezzel in ihrer analytischen Einleitung »Propaganda und Macht« ankündigt, wird von anderen Autorinnen und Autoren im Buch im Einzelnen ausgeführt: das »Meinungslernen in der Schule« (Magda von Garrel), das »organisierte, erpresste Schweigen der abhängig Beschäftigten« (Werner Rügemer), die »Prägung durch Konsum« (Burkhard Bierhoff), das »Internet als Meinungsbildner« (Wolfgang Romey), wie »Bilder manipulieren - Visuelle Propagandaschlachten in Presse, Fernsehen und Internet: MH17, Omran, Venezuela« (Daniela Lobmueh). Durchschaubar gemacht werden auch konkrete Fälle von Verschleierung: »Wie Deutschland seinen ersten Angriffskrieg seit 1945 rechtfertigte« (Kurt Gritsch), »Wie Medien Auslandskonflikte strukturieren. Das Beispiel Maidan« (Stefan Korinth), der Mord an Walter Lübcke (Wolf Wetzel) und der Schauprozess gegen Julian Assange (Hannes Sies).

Wiederkehr der Verschwörungstheorien?

Dass der diffamierende Begriff »Verschwörungstheorie« ursprünglich aus dem Arsenal der CIA stammt, um Zweifeln an der offiziellen Ermittlung zum Kennedy-Mord entgegenzutreten, ist immer noch manchen unbekannt. Insofern ist der Artikel von Mathias Bröckers über die vermehrte Verwendung des Begriffs wichtig und gerade jetzt aktuell, da sich der Neoliberalismus in einem Krisenmodus und einer Transformation befindet, bei der wir nicht wissen, was uns in Zukunft blüht. Ist die Angst vor autoritären Tendenzen begründet? Die geradezu inflationäre Warnung vor Verschwörungstheorien, um alles von der staatlichen Linie Abweichende ins Irrationale zu verbannen, muss hellhörig machen. Das System scheint nicht mehr so ein dickes Fell zu haben, was keineswegs darauf hinweist, dass die sozialistische Utopie näher rückt. Was diese Situation für Linke bedeutete, auch das wäre eine spannende Frage für mich.

»Wie kommt es, dass die Beherrschten die Meinungen der Herrschenden übernehmen?«, überlegt Klaus-Jürgen Bruder vor dem Hintergrund von Corona. »Dass dies alles so ohne jede Frage und mit einer Heftigkeit geschieht, dass vereinzelter Widerspruch sofort aggressive Abwehr hervorruft«, verwundert nicht nur ihn. Einübung in ein »Notstandsregime«, ein »großes Experiment in Gehorsamkeit«? Die Verbreitung von Angst ist ja eine uralte Herrschaftstechnik. Wobei ich mir immer noch unsicher bin, ob die politische Akteure - es war ja ein weltweiter Vorgang - nicht auch selbst von Angst getrieben sind. Noch mehr Fragen.

Wobei durchaus Kollateralschäden in Betracht gezogen werden müssen, wenn die Kluft zwischen der offiziellen Realitätsdeutung und der eigenen Erfahrung in der Bevölkerung zu groß wird. Darauf verweist Georg Rammer in »Fake Reality: Propaganda, Manipulation, Kontrolle und die Folgen«. Die repräsentative Demokratie wird ausgehöhlt, wenn »Vertrauen und Glaubwürdigkeit schwinden«. Wie »nach und nach (…) die Erfahrung der Scheinrealität zur ›Normalität‹, wird, ein selbstverständlicher Teil des Alltags« - diese Politikmüdigkeit hat sich durch Corona vertieft. Rammer schreibt: »Viele Menschen wissen und spüren, dass sie Objekte allgegenwärtiger Kontrolle und Beeinflussung sind, für Geheimdienste ebenso wie für Parteien und mächtige Konzerne und Banken. Das wirkt sich auf die Psyche ebenso fatal aus wie auf den sozialen Zusammenhalt. Denn das Bedürfnis nach Vertrauen, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung ist tief im Menschen verankert.«

Stimmt, aber zugleich liegen existenzielle Unsicherheit und Entsolidarisierung doch in der Natur des Neoliberalismus. »Sie sind das Produkt einer Wirtschaftsideologie, welche die Deregulierung bar jeder sozialen Verantwortung und, mehr noch, deren völlige Ablehnung als Voraussetzung einer effizienten Wirtschaft und von Freiheit und Wohlstand für alle propagiert«, wie Anton Percy schreibt. Psychologe auch er, setzt er auf interessante Weise den neoliberalen »Zwang der Verhältnisse« in Beziehung zur Individualpsychologie. »Wir sind überzeugt, uns eine Meinung bewusst und nach gründlicher Überlegung gebildet zu haben. Wir täuschen uns. Unbewusste Motive und Prozesse geben den Ausschlag.« Eine »unbewusste Konditionierung« fände statt. Deren genaue Beschreibung ist in diesem Text umso eindrucksvoller, weil sie abseits moralischer Wertung geschieht und weil sie sich, wie überhaupt in den meisten Texten des Buches, einer inneren Widersprüchlichkeit, einer Dialektik bewusst bleibt.

Ideologischer Klassenkampf

Moshe Zuckermanns Artikel »Holocaust und ‚Holocaust‘ - eine Meinungsfrage?« wäre ein Diskussionsthema für sich. Dem Soziologen und Historiker aus Tel Aviv stellt sich die Frage, inwieweit diese Begriffe den »am europäischen Judentum verübten Völkermord« verschleiern, zumal es »um politische Prozesse, gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Zusammenhänge und Ideologien« gehe, um »industrialisierte, bürokratisch angeordnete, administrativ verwaltete Formen der Massenvernichtung von Menschen«, denen die »Identität Jude« oft »von außen« aufgezwungen worden sei. Zuckermann meint, »dass die jenen historischen Zusammenhängen zugrunde liegenden Strukturen, mithin die stete Drohung potenziellen Rückfalls in die Barbarei, noch keineswegs aus der Welt geräumt sind«, dass sie vielmehr »unsichtbar geworden, welthistorisch durchaus fortwesen«. Und er weiß auch, warum dieses Unsichtbarmachen in der alten Bundesrepublik gelang, die »als Bollwerk gegen den befürchteten Vorstoß des Kommunismus in den Westblock« integriert wurde: »Die unerhörte Leichtigkeit, mit der die ›Entnazifizierung‹ wahrgenommen sowie die Schnelligkeit, mit der sie abgeschlossen wurde, gehören in die subkutane Geschichte jener Zeit des bereits tobenden Kalten Krieges.«

Auf der anderen Seite der Front, das steht allerdings nicht im Buch, wurde der Antifaschismus zur Begründung einer Politik, die tatsächlich jene gesellschaftlichen Strukturen tiefgreifend veränderte, welche die Grundlage des Naziregimes waren. Die Systemkonfrontation existierte während des Kalten Krieges in aller Offenheit. Der Begriff »ideologischer Klassenkampf« war im Osten nicht aus der Luft gegriffen, wobei die Mittel des Westens subtiler waren. Mit Hilfe des Marshallplans hatten die USA die BRD auch ideologisch aufgerüstet. Mit dem Wohlstandsversprechen dort konnte die DDR innerhalb des sowjetisch dominierten »Ostblocks« nicht mithalten, auch wenn da eine andere, solidarische Lebensform entstehen sollte. Ganz offiziell wurde von Agitation und Propaganda gesprochen, es gab sogar eine spezielle Abteilung im Zentralkomitee dafür. Zensur war kein Geheimnis, Machtpolitik kaum verschleiert. Mechanismen, die heute »hinter dem Vorhang« oder »unter der Decke« existieren, lagen häufig klar zutage. Was womöglich ein Grund ist, warum gerade im Osten Deutschlands Skepsis gegenüber allem Regierungsamtlichen zu beobachten ist. Unsereins hat Ideologie unverdeckt in Aktion gesehen und wird sie auch in verdeckter Form erkennen.

Macht und Repression

Stabilisierung von Machtverhältnissen, darum geht es doch immer und überall. Staaten agieren da offen repressiv oder, wenn sie es sich leisten können, mit »Demokratieformen«, die allerdings, so Almuth Bruder-Bezzel, mächtiger »Beeinflussungsapparate« bedürfen, damit die Menschen so denken wollen, wie sie sollen. Da war Gustav Le Bons berühmte Schrift »Psychologie der Massen« von 1895 »im Nachgang der französischen Revolution, dann der späteren revolutionären Bewegungen in Frankreich 1848 und im Aufstand der Pariser Kommune 1871 als Warnung vor dem ›Mob‹ und dem Sozialismus zu verstehen«, so Bruder-Bezzel. Seit Le Bon hat die Massenkommunikationsforschung Fortschritte gemacht und sich verfeinert, vor allem auch in den USA. Unbemerkt für die meisten entwickelte sich auch hierzulande der akademische Bereich der »angewandten Psychologie« mit vielfältig einsetzbaren Spezialisten. Ob Medien-, Wahl- oder Marktforschung - »auf allen Ebenen«, so Almuth Bruder-Bezzel, »werden die Register gezogen (…) um eine gewünschte öffentliche Meinung zu gesellschaftlich brisanten Fragen herzustellen oder um ein Produkt erfolgreich auf den Markt zu bringen, um Wünsche, Bedürfnisse, Emotionen zu wecken oder zu verändern. Hierzu dienen sprachliche Mittel, Bildmaterial und Zahlenverdrehungen, bestimmte Anordnungen und Veränderungen von Nachrichten. Zum Zweck der Manipulation werden komplexreduzierte Wissensbestände, Halbwahrheiten, Gerüchte, emotionale Botschaften, Verschweigen, Diskriminierungen bis zu Lügen eingesetzt.« Wie im Laufe der Jahrzehnte von verschiedenen Forschern Instrumente psychologischer Beeinflussung entwickelt wurden, wird so sachlich einleuchtend erklärt, dass es beklommen machen kann.

Andererseits, kann einem die versteckte Form der Ideologie und Repression nicht doch angenehmer sein als die offene? Der Kapitalismus kommt mit vielerlei emanzipatorischen Bestrebungen zurecht, wird indes einem kraftvoll ausgetragenen Kampf um Umverteilung zu entgehen trachten. Und sollte ihm das nicht durch Ablenkungsmanöver und partielles Entgegenkommen gelingen, steht immer noch eine autoritäre Option mit einer rechtsnationalen Partei in Reserve, die als Wolf im Schafspelz in Corona-Zeiten sogar Freiheitsrechte einforderte. Glaube niemand, dass man dort nicht auch Propagandaspezialisten hat.

Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder (Hg.): Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird. Westend Verlag, 250 S., br., 22 €.

nd-Literatursalon mit Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder am 1. September um 18 Uhr im Haus am Franz-Mehring-Platz 1.

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