Helmholtz – ein Genie von der Havel

Vor 200 Jahren in Potsdam geboren, lange in Berlin am Werk: Hermann von Helmholtz, Netzwerker, Multitalent und Brückenbauer

  • Eckart Roloff
  • Lesedauer: 8 Min.

»Der Mann war ein Popstar.« Wen meint Daniel Tyradellis damit? Das ist schnell geklärt, wenn man weiß, wo Tyradellis arbeitet: an der Humboldt-Universität, genauer am dortigen Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik. Also zielt er auf Helmholtz, den Mann, der ganz in der Nähe mit einem imposanten Denkmal geehrt und oft mit dem Etikett »Universalgelehrter« versehen wird. Schließlich war er Mediziner und Physiker, Erfinder vieler Apparaturen (darunter der Augenspiegel, der erste Synthesizer, die Helmholtz-Spule und der Helmholtz-Resonator), befasst mit Sehen und Hören, mit Hydro- und Thermodynamik, mit Energiethemen und Mathematik, Philosophie und Psychologie.

Hier nur eine kleine Auswahl seiner Schriften. Selten waren sie im hochtrabenden Latein überschrieben à la »De Fabrica Systematis nervosi Evertebratorum«. Lieber mochte er solche Titel: »Ueber eine neueste einfache Form des Augenspiegels«, »Ueber Goethes’s naturwissenschaftliche Arbeiten«, »Eis und Gletscher«, »Ueber die Vocale«, »The Axioms of Geometry«, »Ueber steuerbare Luftballons«, »Wirbelstürme und Gewitter«, »Telephon und Klangfarbe« sowie »Die Energie der Wogen und des Windes« von 1890.

Eine staunenswerte Vielfalt, gewiss. Aber genügt das für das Prädikat vom Universalgelehrten? Dazu kam es wohl auch, weil die Fachgrenzen damals nicht so streng waren und die Zahl der Disziplinen viel geringer als heute.

An anderer Stelle wird Helmholtz, am 31. August vor 200 Jahren in Potsdam geboren, so umschrieben: »Er war ein Ausnahmeforscher des 19. Jahrhunderts und ein Netzwerker, der sich mit Wissenschaftlern und Politikern über Disziplin- und Ländergrenzen hinweg verständigte, lange bevor ›interdisziplinär‹ und ›Globalisierung‹ zu Modewörtern wurden.«

So steht es unter Helmholtz-Fonds auf der Homepage der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Deren Vorgängerin, eine Reichsanstalt, hatte Helmholtz gemeinsam mit Werner von Siemens in Berlin auf den Weg gebracht. Danach war er bis zu seinem Tod 1894 deren erster Präsident. Zu erfahren ist auch, dass es Helmholtz-Symposien gibt und hoch dotierte Helmholtz-Preise.

Im Mittelpunkt steht hier eine höchst spezielle und wichtige Disziplin: die Metrologie, auch wenn sie nur selten Schlagzeilen macht. Sie ist etwas ganz anderes als die Meteorologie, die in den letzten Monaten so stark wie selten gefragt war - doch auch ihr galt Helmholtz’ Interesse. Der Metrologie geht es um das exakte Messen etwa der Zeit (geregelt auch im bundeseinheitlichen Einheiten- und Zeitgesetz). Die oberste Instanz dafür ist jene Bundesanstalt, die mit ihren rund 1500 Beschäftigten vor allem von Braunschweig, aber auch von Berlin aus tätig ist.

Helmholtz’ Wirkung ist gut danach zu bemessen, was sonst noch nach ihm benannt wurde. Da dominiert seit 1995 die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. In ihr sind 18 naturwissenschaftlich-technische und medizinisch-biologische Zentren vereint, darunter acht in Berlin und Brandenburg. Sie packen fundamentale Themen an, um unsere Lebensgrundlagen nicht nur zu erhalten, sondern zu verbessern.

Darum bemühen sich gut 43 000 Mitarbeiter*innen. »Ein Markenzeichen ist dabei die Zentren-übergreifende Erforschung komplexer Themen in langfristigen gemeinsamen Programmen«, bemerkt Otmar D. Wiestler als Präsident dieses Verbundes. Für ihn beschrieb Helmholtz »Gesetzmäßigkeiten, die heute wirkmächtiger sind denn je zuvor; er ist hochaktuell«.

Mit einem Jahresetat von fünf Milliarden Euro ist die Helmholtz-Gemeinschaft neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft eine der großen deutschen Wissenschaftsorganisationen. Sie alle machen klar, dass sie trotz mancher Konkurrenz auf Zusammenhalt angewiesen sind, auf viel Austausch - und reichlich Förderung.

Zu den drängenden Fragen, denen sich die Institute unter dem Siegel Helmholtz widmen, zählen Infektionsmedizin und Virologie, der Klimawandel, die Hydrologie und die Biodiversität, die Polar- und Meeresforschung, ferner erneuerbare Energien, bessere Batterien und ebenso Naturgefahren, darunter schwere Überschwemmungen, wie sie jetzt wieder viel zerstörten.

Zurück zur Person Helmholtz. Auf dem Potsdamer Gymnasium erwies er sich als sehr guter Schüler mit starker Neigung zur Physik. »Ich stürzte mich mit Freude auf das Studium aller physikalischen Lehrbücher, die ich in der Bibliothek meines Vaters vorfand«, schrieb er später. Doch das entsprechende Studium konnte der Vater, obgleich Gymnasiallehrer, nicht bezahlen. Zudem sah er dort keine guten Berufsaussichten. Also schlug er das äußerst straffe Berliner Medizinstudium vor; das war - bei anschließendem Dienst als Militärarzt - weitgehend kostenfrei. Dort macht Helmholtz seinen Doktor, wird Unterarzt an der Charité und absolviert von 1843 bis 1848 in Potsdam seinen Militärdienst, freilich mit viel Zeit für physiologische Forschungen und das Staatsexamen.

Danach folgt eine Stelle an der Berliner Universität; später wird er als Professor für Physiologie nach Königsberg, Bonn und Heidelberg berufen. Viele Akademien nehmen ihn als Mitglied auf. Von 1870 an schließlich das Berliner Ordinariat für Physik. Seine weit gefasste Arbeit, dokumentiert in vielen Publikationen, Vorträgen und Reisen, führte dazu, dass er neben »Genie von der Spree« und »Genie von der Havel« - diesen Titel nimmt auch eine zweiteilige Potsdamer Ausstellung auf - oft »Reichskanzler der Physik« genannt wurde, weil er als einflussreicher Wissenschaftsmanager wirkte.

Helmholtz gewann auch an Bedeutung, weil er dies erkannte: Wie nötig es ist, Wissen nicht nur an die gelehrte Welt zu vermitteln, sondern ebenso an die Allgemeinheit. Vieles von dem, was etwa als Folge von Corona und Regenmassen allgemein verständlich berichtet wurde und wird, zeigt dies: Wie wichtig es für uns alle ist, komplexe Vorgänge wenigstens in den Grundlagen vermittelt zu bekommen.

Man hat es Helmholtz vielfach gedankt. Nicht allein die Helmholtz-Gemeinschaft trägt seinen Namen. Das gilt auch für zwei Medaillen: eine vergibt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, eine zweite die Deutsche Gesellschaft für Akustik. Viele Schulen nennen sich nach ihm und schon seit 1897 viele Straßen und Plätze, nicht nur in Berlin.

Viele deutsche Städte kommen nicht ohne »seine« Straßen aus. Wissen jene, die unter solchen Schildern leben, mehr mit seinem Namen anzufangen als andere? Der zielt auch auf ein sehr fernes Feld: Nach ihm heißen auch ein Mondkrater, ein Marskrater und der Asteroid (11573) Helmholtz. Zu deutschen Briefmarken-Ehren hat es der Jubilar auch gebracht, das war 1971 und 1994 so. Die Post der DDR brachte schon 1950 eine Marke zum 250-jährigen Bestehen der Deutschen Akademie der Wissenschaften - ein Helmholtz-Porträt mit ernstem Ausdruck; anders waren Forscher seinerzeit kaum zu haben.

Es gibt für Helmholtz auch diese Prädikate: »Gigant der Wissenschaft« und »Wissenschaftsikone«, zu lesen auf dem Rückumschlag einer kürzlich erschienenen Biografie. Mit ihren fast 1000 Seiten, solide gebunden, ist sie selbst etwas Gigantisches. Allein der Anhang mit Hunderten von Anmerkungen und Literaturverweisen samt einem Register streckt sich über fast 200 Seiten. Fünf Übersetzer*innen haben das englische Original ins Deutsche geholt.

David Cahan, der Autor und Historiker - durch andere Publikationen schon lange mit seinem Helden vertraut -, zeichnet dabei nicht nur ein erstaunlich breites Lebensbild, nein, er geht auch in die Tiefe, sieht ihn als »charismatischen Anführer«, schildert dessen Stationen und Leistungen, ebenso die familiären und die wissenschaftlichen Beziehungen weit über Deutschland hinaus, die damals so wichtig waren wie heute.

Sie verhalfen Helmholtz auch zum Adelstitel (1883) und zu etlichen Auszeichnungen etwa in den USA, Frankreich, Schweden, Schottland und Irland. Zur Sprache kommt bei Cahan auch, dass Helmholtz »als Lehrer viel zu wünschen übrig ließ«, den nicht ambitionierte Studenten kaum verstanden. Er habe zu sehr »von oben herab« doziert.

Wie gut, dass der Verfasser nicht so sehr auf einen streng sachlichen und nüchternen Ton setzt, sondern auf ein oft nahezu erzählerisches, teilnehmendes Vermitteln, fast so, als wäre er dabei gewesen. Das Lesen fiele freilich noch leichter, gäbe es nicht so oft allzu lange Absätze.

Der Dramaturg Konstantin Küspert bewertet das Buch als eine »phantastische Biografie«. Sie hat ihn gereizt, daraus für das Berliner Ensemble eine Leseperformance zu machen, bei der am 23. Juni drei Schauspielerinnen vom Wirken des Brückenbauers berichteten.

Was es nicht gibt, ist eine physikalische Einheit, die Helmholtz’ Namen führt, so wie das für Watt, Volt, Ampère, Ohm, Becquerel, Röntgen und viele andere Pioniere gilt. Der Vorschlag des NS-Bundes Deutsche Technik im Jahr 1939, für die Einheit der Frequenz die Bezeichnung Helmholtz statt Hertz zu verwenden, scheiterte. Raffiniert dabei: Das geläufige Kürzel Hz wäre geblieben. Hertz, der zwei Jahre lang als Assistent bei Helmholtz in Berlin gearbeitet hatte, passte den Nazis wegen seiner jüdischen Abstammung eigentlich nicht, doch die Maßeinheit blieb.

Helmholtz schrieb einmal: »Wissen allein ist nicht der Zweck des Menschen auf der Erde, nur Handeln gibt ihm ein würdiges Dasein, Handeln für den Fortschritt der Menschheit.« Eine passende These auch für unsere Jahre.

Seine letzte Ruhestätte, ein Ehrengrab der Stadt Berlin, liegt auf dem Friedhof Wannsee in der Lindenstraße. So viel Zuwendung er auch bekam, eine Benennung könnte, nein sollte noch hinzukommen: Die Hohe Schule der Stadt, in der er 1821 zur Welt kam, heißt bisher nur Universität Potsdam. Wie wäre es mit …?

David Cahan: »Helmholtz. Ein Leben für die Wissenschaft«. WBG Theiss, Darmstadt 2021. 992 S., gebunden, 89 €.

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