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Japans verlorenes Erbe
57 Jahre nach den ersten Paralympics in Tokio sollen die jetzigen Spiele das Leben mit Behinderung besser machen
Zählen, was verloren gegangen ist, und das benutzen, was noch übrig bleibt«, kommentiert der Sprecher im japanischen Fernsehen. »Am Turnier mit diesem Motto nehmen 369 Athleten aus 22 Ländern teil.« 53 davon kommen aus dem Gastgeberland. Doch die Bilder zeigen Rollstuhlfahrer aus allen Nationen, wie sie den Zuschauern auf vollen Rängen zuwinken. Die Delegation aus Italien bewegt sich inmitten öffentlicher Begeisterung mit Verwunderung und Stolz über die Tartanbahn. Der Kommentator erklärt, wie die Veranstaltung heißt: »Das Paralympische Turnier körperlich Behinderter.«
Es ist Herbst 1964. Nach den Olympischen Sommerspielen von Tokio, die die ersten auf asiatischem Boden waren, veranstaltet die japanische Hauptstadt zehn Tage lang im November die »Paralympics«. Erstmals trägt die schon damals größte Behindertensportveranstaltung der Welt diesen Namen. 1948 vom Arzt Ludwig Guttmann gegründet, hatten parallel zu den Olympischen Sommerspielen in London die ersten »Stoke Mandeville Games« stattgefunden, damals auf einem Krankenhausgelände - mit 16 querschnittsgelähmten Bogenschützen. Es wurde eine Tradition daraus. 1960 in Rom fand das Ereignis erstmals am selben Ort und im selben Jahr wie die Olympischen Spiele statt.
»Tokyo 1964« wurden dann die ersten Paralympischen Spiele, die auch so hießen. In Japan ist dies minutiös aufgearbeitet. 2019, also im Jahr vor dem ursprünglich geplanten Start der aktuellen Spiele, brachte der Großverlag Kadokawa eine aufwendig produzierte Dokumentation heraus mit dem Titel: »Tokyo Paralympic: ai to eiko no saiten«, übersetzt: Das Zelebrieren von Liebe und Ruhm. Die 1964er Paralympics haben demnach den Weg bis 2020 geebnet. Auch in Japans Olympiamuseum, direkt neben dem für die 2020er Spiele neu gebauten Nationalstadion, wird betont, wie die Paralympics von Tokio ein Meilenstein für den Behindertensport gewesen seien.
Allerdings waren sie dies für Japan nur sehr bedingt. Bei Olympischen Spielen gehört das ostasiatische Land zwar zu den stärksten Nationen, bei den Paralympics aber hinkt es hinterher. Während man im historischen Medaillenranking der Olympischen Spiele derzeit auf Platz zehn steht, reicht es bei den Paralympics nur für Platz 17. Und das liegt nicht etwa daran, dass man später angefangen hätte und nun endlich aufholt: Noch 2016 in Rio gelang Japan keine einzige paralympische Goldmedaille, das Land landete im Nationenvergleich weit in der unteren Hälfte. Bei den Olympischen Sommerspielen belegte man dagegen einen starken sechsten Platz. »In der Vergangenheit hat es kaum Sportförderung gegeben«, sagt Takanori Yokosawa, der 2010 in Vancouver für Japan als Monoskifahrer startete. Heute sitzt er als Politiker im japanischen Oberhaus und bemüht sich um mehr Inklusion insgesamt - inklusive der Sportförderung. »Die besten paralympischen Athleten werden jetzt endlich in die nationale Eliteakademie aufgenommen, also auch mit Staatsmitteln gefördert.« Aber dies ist eine relativ junge Errungenschaft, die sich erstmals bei den Tokioter Spielen bezahlt machen könnte.
Böse Zungen mutmaßen, solche Reformen hätten nicht annähernd so weit gereicht, wenn Tokio nicht 2013 den Zuschlag für die Durchführung der nun laufenden Spiele erhalten hätte. Und Kritiker sehen auch in der Parasportförderung das bloße Ziel der Medaillengewinne für nationales Prestige. »Für Breitensport gibt es immer noch kaum wirkliche Unterstützung«, sagt Yokosawa. »Einen Sportrollstuhl muss man sich selbst kaufen. Und viele können sich das nicht leisten.« Er findet auch deshalb, Japan sei trotz eines üppigen Eliteförderprogramms weiterhin rückständig, was den Umgang mit Behindertensport angeht.
Eher als finanzielle Gründe gibt es dafür gesellschaftliche Erklärungen. Über Jahrzehnte sind in Japan Menschen mit einer Behinderung oft vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen und in Anstalten abgeschoben worden. Bis Mitte der 1990er Jahre ermöglichte ein Gesetz sogar die Sterilisierung von Personen mit geistigen Behinderungen. Heute berichten behinderte Menschen, dass sie gelegentlich immer noch nicht in Restaurants gelassen werden. »Diskriminierung erlebt man regelmäßig«, berichtet Takanori Yokosawa.
Im Sport fällt dies auch jenen Beobachtern auf, die eine Perspektive von außen haben. Heinrich Popow, ehemaliger deutscher Goldmedaillengewinner im paralympischen Sprint und heute Prothesenbauer für das Unternehmen Ottobock, berät seit einigen Jahren den japanischen Parasport. »Rein technisch ist man in Japan auf dem gleichen Stand wie zum Beispiel in Deutschland«, sagt der 38-Jährige, der dieser Tage auch in Tokio ist. »Vielen Athleten fehlt hier allerdings das Selbstbewusstsein. Das brauchst du aber, um Medaillen zu gewinnen.« Popow schätzt, der häufige Mangel an Selbstvertrauen habe damit zu tun, dass Behinderungen lange Zeit kaum salonfähig gewesen sind.
Die Spiele im eigenen Land sollen den japanischen Athletinnen und Athleten nun einen Schub geben. Die jahrzehntelange Geringschätzung versuchen schließlich auch große Medienanstalten seit einiger Zeit zu kompensieren. Der öffentliche Fernsehsender NHK hat im Vorfeld der Spiele eine an Kinder gerichtete Animeserie namens »Anipara« ausgestrahlt, in der sich Jugendliche in jeder Episode eine paralympische Sportart erklären lassen, von der sie letztlich hellauf begeistert sind. Ob Boccia, Rollstuhlbasketball oder der Sprint sehbehinderter Personen, am Ende fragt immer eine Stimme aus dem Off: »Und wer ist dein Held?«
Die Spiele von Tokio sollen nun ein paar solcher Helden in den echten Wettkämpfen hervorbringen. Auch, damit sich die Stellung von Menschen mit Behinderung im Land endlich nachhaltig verbessert.
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