Trubel in der Buddelkiste

Die Langzeitdokumentation »Die Kinder von Golzow« begann vor 60 Jahren. Ihr Regisseur erinnert sich an den Anfang

  • Winfried Junge
  • Lesedauer: 7 Min.

Beinahe wäre es gar nicht zu meinem ersten Film gekommen. Als Assistent von Karl Gass, einem der maßgeblichen Defa-Dokumentaristen, war ich rund um den 13. August 1961, als die Mauer in Ostberlin gebaut wurde, noch für seinen großen Westberlin-Film »Schaut auf diese Stadt« unterwegs und zwar in Ost wie West.

Gass hatte aber auch die Idee, zum 1. September, dem Weltfriedenstag, die Chronik einer neuen Generation zu beginnen – und zwar mit dem Tag der Einschulung in Golzow, einem Dörfchen im Oderbruch. Zu diesem Zweck beorderte er Hans Dumke, seinen Kameramann, noch einen weiteren Kameramann und mich von der Grenze zurück. Wollten wir doch in Golzow noch die letzten Tage der künftigen Erstklässler im Kindergarten erleben, um den Übergang vom Spielen zum Lernen festzuhalten.

Dass wir dafür am 29. August gerade noch rechtzeitig kamen, wurde zur freudigen Überraschung. Und wir – dem Tollhaus Berlin entronnen – genossen drehend den friedlichen Trubel in Golzows Buddelkiste, wo man auch gerade an etwas baute – an einer neuen Schule aus Sand. Die 24 Kinder der neuen Klasse 1A passten ja da noch alle rein, und die Filmonkels mit ihren Kamerautensilien wurden sofort zu Spielgefährten.

Ich fragte nach ihren Namen, konnte mir aber nur einen merken: Der hieß auch Winfried, hatte es von Anfang an mit unserer Technik und sollte später einmal Diplomingenieur für elektronischen Gerätebau werden. Er lebt jetzt in Augsburg, und wir kennen uns bis heute. Schließlich, so zeigt es der Film, singen sie, wie die Spatzen am Rande des Sandkastens aufgereiht, ihrer allerersten Lehrerin das Lied, das meinem Debüt auch den Titel gab: »Wenn ich erst zur Schule geh«.

Erst wollte ich mein Thema in Eisenhüttenstadt ansiedeln, das war damals der Wallfahrtsort für die Presse. Aber Bezirksschulrat Dr. Laabs orientierte auf die neue zehnklassige Schule in Golzow, dieser Errungenschaft in einer Landschaft der Zwergschulen. Übrigens sprachen wir anfangs noch kaum von der Fortsetzbarkeit unserer Beobachtungsstudie als Langzeitprojekt. Dennoch spiegelte sich in der Elternvertretung schon Furcht, die Filmerei wäre mit einem vernünftigen Unterricht nicht zu vereinbaren. Als es in der Klasse dann um das »A« als erstem Buchstaben des Alphabets ging, arbeiteten wir auch deshalb noch mit »versteckter Kamera«, indem wir von außen durch die teilweise verhängten Fenster drehten, was den Kindern den Spaß an der Schule noch erhöhte.

Wenn heute bedauert wird, dass zeitgleich nicht auch in der alten Bundesrepublik mit so einer Chronik begonnen wurde und deshalb heute keine vergleichende Betrachtung möglich sei, darf gefragt werden, wer »da drüben« über fünf Jahrzehnte immer wieder Geld in ein Unternehmen hätte stecken wollen, das sich nie rechnet? In der DDR motivierte immerhin der Glaube an ein Ziel – den erfolgreichen Abschluss des Aufbaus des Sozialismus in gesicherten Grenzen bis zum Jahr 2000, für das es zu dokumentieren lohnte.

Vermutlich dachte Karl Gass schon so weit, ich war nur froh, dass ich als einer der ersten Absolventen der Babelsberger Filmhochschule einen eigenen Film kriegte, nachdem ich ihm drei Jahre treu gedient hatte. Kinder ab ihrer Einschulung durch die Schulzeit ins Leben zu begleiten, bis sie selbst ihre Kinder zur Schule bringen, war ja eine Idee gewesen, für deren Realisierung sich Karl schon zu alt fühlte. Ich wiederum hatte Filmdramaturgie studiert, kam also vom Papier und konnte mir nun bei Gass als »Junge für alles«, sozusagen von der Pike auf, das ABC des Dokumentarfilms erarbeiten. Wie die Golzower und die ebenfalls debütierende junge Lehrerin das ihre.

Alles hing von meinem Erstling ab. Er gelang immerhin so, dass sich die Defa einen zweiten vorstellen konnte. Und der wurde bereits zu Endes des Schuljahres mit Kameramann Hans-Eberhard Leupold, ebenfalls Hochschulabsolvent, gedreht, korrigierte so manchen Fehler des Vorgängers und trug zur Internationalen Dokumentarfilmwoche in Leipzig 1962 dazu bei, dem DDR-Programm eine »Silberne Taube« als Hauptpreis einzubringen. Der folgten 1966 für »Elf Jahre alt« eine eigene »Silberne«, 1981 für »Lebensläufe«, dem achten über vier Stunden langen zusammenfassenden Film, eine »Goldene ehrenhalber« und zur Berlinale 1982 weitere zwei Preise im Internationalen Forum des Jungen Films. Da war bereits Barbara an meine Seite getreten, die die Arbeit mit dem archivierten Material übernommen hatte. Ab 1983 schnitt sie dann auch alle unsere Filme.

Einen Plan für diese Reihe machte die Defa allerdings erst 1986, als man uns für einen letzten Film zum 50. Jahrestag der DDR 1999 weiterarbeiten ließ. Egon Krenz und Kurt Hager hatten dazu geraten, und vom DDR-Kulturfonds kam das Geld. Das reichte, um zuletzt auch den Fall der Mauer und das Ende unseres Staates zu dokumentieren, mit dem einmal so viele Hoffnungen verbunden waren. So wie wir nicht wenige der über 30 Dokfilme zu anderen Themen im Studio durchsetzen mussten, realisierte sich auch die Vision von Gass bis dahin also nur von Film zu Film, abhängig vom Glück der Gelegenheiten und ließ uns danach mit Fördermitteln und Fernsehbeteiligung bis 2008 noch weitere zehn Berlinalen mit 18 Einzelporträts und Filmbiografien erreichen.

Wie hätte das alles absehbar sein sollen? Können wir doch heute nur feststellen, dass wir zum Jahr 2000 nicht den Beginn des Kommunistischen Jahrtausends dokumentieren konnten, jedoch immerhin, »Die Kinder von Golzow« blieben. Sie hatten die Defa und die DDR überlebt. Das »Golzow-Projekt«, wie man vielfach nur sagt, ist die älteste Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte geworden. Immer wieder spricht diese Reihe neue Zuschauergenerationen an. Die Älteren setzen ihr Leben mit dem Gesehenen in Vergleich, Jüngere entdecken sie als Information über die Zeit des Lebens ihrer Eltern und Großeltern. An die 300 TV-Ausstrahlungen in Deutschland und – nicht nur – im deutschsprachigen Europa, wie auch die Goethe-Institute, haben die »Kinder von Golzow« weithin bekannt gemacht.

In Golzow hat sich der Verein »Golzower für Golzow« ein Filmmuseum geschaffen. Es erinnert mit unserem Schneidetisch und noch vielen restlichen Büchsen zugleich an die längst verflossene Ära des 35-mm-Kinofilms, die mit uns vor anderthalb Jahrzehnten zu Ende ging. Die Gästebücher des Museums sind spontaner Eindrücke voll. Und noch immer erreichen uns viele Zuschriften. Extrem ablehnend war vor Jahren ausgerechnet lediglich die eines Kirchenmannes, der unsere Filme für »hundertmal schlimmer als ›Big Brother‹« hielt. Dem steht auch dieses Urteil auf einer schlichten Postkarte entgegen: »Liebe Kinder von Golzow! Ob Ihr es wahrhaben wollt oder nicht – Ihr seid Weltkulturerbe ...«.

Würde ich heute anders herangehen oder besser gleich davon lassen? Es ist schon ein Segen, dass diese Frage hypothetisch ist. Ausgangs meines Lebens will ich auch nicht klüger sein, als ich es damals sein konnte. Auch weil es die DDR nicht mehr gibt und es etwas anderes war, in ihr und über sie einen Film zu machen, als er heute zu machen wäre.

Gewünscht hätte ich mir zu DDR-Zeiten, das Projekt auf stabilere Beine stellen zu können. Horst Pehnert, ehemals »Filmminister« der DDR, gestand mir einmal, dass ich von ihm alles hätte haben können, wenn er gewusst hätte, was da kommt. Will also sagen: Die Chronik könnte heute eine viel reichere Auskunft sein, als sie ist. Die Biografien leben zu oft von dem, was wir nicht selten nur zufällig mitbekommen. Und Wichtigeres, Problemhaftiges blieb »außen vor«. Manchen Szenen ist das auch anzusehen, wie die Regie und der Kommentar versuchen, Beabsichtigtes in den Griff zu bekommen, statt dem Lauf des Geschehens zu vertrauen. Aber wer drehte schon, ohne daran zu denken, dass er etwas »Abnehmbares« zu liefern hatte. Da bin ich froh, dass das Wenige, das sich in der Summe mitteilt, ausreichend interessiert und nicht zu viele Fragen unbeantwortet lässt.

Drei aus dem engeren Kreis der Gefilmten sind ja schon tot. Brigitte – die Geflügelzüchterin, Jürgen – der Maler und Jochen – der Melker. So gaben wir dem letzten Film unserer Chronik den an sich wenig originellen, aber irgendwie doch passenden Titel: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ...«. Mit Willy, Dieter, Bernd, Bernhard, Eckhard, Winfried und Marieluise haben wir weiter verlässlich Kontakt. Treffen uns auch immer mal wieder. Zu den anderen Mädchen – Ilona, Petra, Elke und Gudrun besteht er nicht mehr. Ohne dass es Streit gegeben hätte. Sie bereuen wohl vor allem, sich öffentlich gemacht zu haben. Und schließlich sind da noch jene »Kinder«, die uns nicht die Tür weisen würden, wenn wir noch einmal bei ihnen auftauchten, jedoch nie neu von sich aus Kontakt mit uns suchten: Es war ja nur ein Film und nicht das Leben selbst ...

»Verstehen kann man das Leben nur rückwärts«, sagte der Däne Kierkegaard, » leben muss man es aber vorwärts.«

Zum 60-jährigen Jubiläum gibt es am Sonntag im Ostberliner Kino Babylon ab 16 Uhr einen Tag lang Golzow-Filme und Diskussion mit den Machern, der Eintritt ist frei.

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