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Unendliche Konflikte
Warum Nation-Building in Afghanistan und Irak scheitern musste
Das Konzept des Nation-Building in fragilen Staaten umfasst bekanntlich sozioökonomische Elemente sowie den Wandel der politischen Systeme Richtung Demokratisierung. In den Vereinigten Staaten waren sich die Neokonservativen und Demokraten darin einig. Erst unter Präsident Obama kehrten die Demokraten zu einem vorsichtigen Realismus zurück. Obama machte am Anfang seiner ersten Amtsperiode deutlich, dass die moderaten Islamisten Partner des Westens sein könnten. Sein Nachfolger Trump zeigte in der Nahostpolitik deutlich isolationistische Tendenzen. Die Intervention in den Ländern mit endlosen Konflikten aufzugeben, war die Devise seiner Administration.
Der euphorische Prozesses der Nationenbildung hatte jedoch unter Georg W. Bush begonnen. Das Ziel, die Taliban zu vertreiben, wurde wenige Monate nach der Intervention realisiert. Die Entmachtung des irakischen Diktators Saddam Hussein und der Baath-Partei waren im Herbst 2003 bewerkstelligt. Doch konnten die USA und die Verbündeten inmitten des Chaos einfach abziehen? Die Diskussion darüber bleibt kontrovers. Der Abzug scheint sinnvoll im Hinblick auf die Resultate der Intervention und des Rebuilding autoritärer Systeme in Afghanistan und im Irak und macht die Kritik der vom Westen realisierten Pläne notwendig. Warum wurde der Irak ein Milizenstaat unter der Kontrolle des autoritären klerikalen System Irans? Wie konnten die Taliban nach 20 Jahren Nation-Building in Afghanistan und Investitionen von mehr als 2,5 Billionen US-Dollar die Macht wiedererlangen?
Auffallend ist der prioritäre Aufbau der Sicherheitsorgane in beiden Staaten. Für Afghanistan waren nach dem Chaos des Bürgerkriegs und der Herrschaft der Taliban der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und von Versorgungseinrichtungen im medizinischen, sozialen und kulturellen Bereich erforderlich. Der Irak verfügte anders als Afghanistan über Humankapital und Institutionen, die Kriege hatten diese aber geschwächt und sie mussten modernisiert werden. Die USA ließen sich jedoch im Irak von der Idee leiten, dass die Institutionen der alten Systeme abgewickelt werden müssten. Die Auflösung der Armee und die Entlassung aller Fachkräfte, die dem diktatorischen System Saddam Husseins in irgendeiner Weise verbunden waren, führte zu deutlichen Rissen im Staatsgefüge und verursachte ein beispielloses Chaos. Dieses Chaos wurde von den extremen Islamisten respektive Al-Qaida ausgenutzt.
Als Rahmen und Basis für die neu rekonstruierten beiden Staaten wurden in Afghanistan 2004 und im Irak 2005 neue Verfassungen verabschiedet. Beim genauen Hinsehen stellen beide Verfassungen einen Versuch dar, einen tragfähigen Kompromiss zwischen dem Islam und einer halbwegs modernen Vorstellung von Staat und Gesellschaft zu erreichen.
Die Suprematie des Islam in beiden Verfassungen führt allerdings die demokratischen Ansätze ad absurdum. Insofern standen die gesamten Modernisierungsbemühungen von Anbeginn an auf der Kippe. Die USA legten daher ihren Schwerpunkt auf die Gründung von Sicherheitsorganen, die die neue Ordnung verteidigen und verhindern sollten, dass sich die grenzüberschreitenden islamistischen Organisationen wieder fest verankerten. Auch der extrem kostspielige Aufbau der Armeen im Rahmen der fortschrittsgläubigen Nationenbildungsprojekte war keine Erfolgsgeschichte. Die irakische Armee kapitulierte in Mossul vor einem Haufen von IS-Dschihadisten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich im August in Afghanistan.
Was die Funktionalität der politischen Systeme anbelangt, so waren bei der Demokratisierung der beiden Staaten von Anfang an große Defizite sichtbar. Es fehlt in beiden Ländern eine demokratische Tradition und Erfahrung. Die Zivilgesellschaft wurde durch die Kriege und das despotische Herrschaftssystem drangsaliert, die politischen Parteien vertraten partikularistische Interessen. Vor allem die Wahlen, die in Ländern ohne demokratische Tradition oft als einzige Institution einer demokratischen Ordnung wahrgenommen werden, waren vielfach manipuliert. Erschwert wurden die Prozesse des Nation-Building im Irak und in Afghanistan durch die unzähligen terroristischen Anschläge. Im Irak wurde Al-Qaida unmittelbar nach dem Fall Bagdads aktiv. Aus den Reihen der arabischen Sunniten Iraks rekrutierte die terroristische Al-Qaida ihre Dschihadisten. Die Sunniten glaubten nämlich, dass die USA die Schiiten im neuen politischen System bevorzugen würden. Die Ausrufung des Islamischen Staates im Zweistromland 2006 war ein deutliches Zeichen dafür, dass die Sunniten die neue Ordnung für illegitim hielten.
Auch in Afghanistan hatte die ethnische und konfessionelle Polarisierung, die nach dem Sieg der Dschihadisten im Jahr 1996 sichtbar war, nach 2001 deutlich mehr Gewicht. Die Taliban waren eine politisch-religiöse extreme Gemeinschaft, sie rekrutierte sich aus den Reihen der größten afghanischen ethnischen Gruppe, den Paschtunen. Die Taliban waren fast ausschließlich Paschtunen, aber nicht alle Paschtunen sind Taliban-Anhänger. Die USA wollten aber, da deren Position egalitär determiniert war, außer den Paschtunen auch Usbeken, die schiitischen Hazara, Tadschiken, Turkmenen etc. im politischen System und an den Institutionen partizipieren lassen. Dies stärkte den Einfluss der Taliban als paschtunische Bewegung. Das bedeutet nicht, dass die Paschtunen im amerikanischen Afghanistan politisch marginalisiert waren, denn sie waren in den Schlüsselpositionen gut vertreten. Aber Hamid Karsai und Aschraf Ghani wirkten in einem System, das die Dominanz der Paschtunen gefährden konnte.
Das Nationenbildungskonzept, das aus den Erfahrungen der USA in Japan und Deutschland nach 1945 und Südkorea nach dem Koreakrieg gewonnen wurde, konnte im Irak und Afghanistan keine positiven Ergebnisse zeigen. Zwar investierten die USA und die westlichen Staaten enorme Geldsummen, aber die Akzeptanz der westlichen respektive amerikanischen Modernisierungsrezeption war sehr eingeschränkt. Der Konflikt in den beiden Staaten produzierte islamischen Extremismus unterschiedlicher Couleur. Die terroristischen Gruppen, IS und Taliban, witterten unter der Bedingung der externen Intervention die Chance, ihre Projekte zu realisieren. Der Islamische Staat scheiterte nur, weil eine internationale Koalition gegen seine Ausweitung entstanden war und weil der Iran den Irak zu einem von ihm anhängigen Milizenstaat transformierte. Die Taliban waren und sind unbesiegbar, weil sie als paschtunischer Ethno-Nationalismus mit islamischer Legitimation ziemlich stabil sind. Am Ende war es daher folgerichtig, dass die Taliban im August 2021 die Macht wiedererlangten.
Bezogen auf die historischen Erfahrungen von Nation-Building ist bei den gescheiterten Vorhaben im Irak und in Afghanistan auffällig, dass die regionalen Mächte Pakistan und Iran eine destruktive, interventionistische Position eingenommen haben. Pakistan versuchte über verschiedene Kanäle, seine dominante Rolle unter den afghanischen Dschihadisten durchzusetzen und dadurch seine regionale Position zu stabilisieren. Ein weiteres essenzielles Motiv Pakistans in der Taliban-Politik steht im engen Zusammenhang mit dem paschtunischen Ethno-Nationalismus. In Pakistan leben geschätzt 40 Millionen Paschtunen. Pakistan versucht durch die Gründung und Unterstützung der Taliban, den paschtunischen Ethno-Nationalismus zu schwächen und so die Gefahr des Separatismus im eigenen fragilen Land abzuwenden.
Der Iran seinerseits war bestrebt, in den Nachbarstaaten zur Stabilisierung seiner Herrschaft eine Vormachtrolle aufzubauen. Ein stabiler Staat Afghanistan und die Partizipation der afghanischen Schiiten im neuen System lagen im Interesse des Iran. Der Sturz Saddam Husseins eröffnete dem Iran die Möglichkeit, im zukünftigen Irak mitzuentscheiden. Dieses Ziel war nicht aus der Luft gegriffen. Die neuen Machthaber waren ihre Verbündeten im iranisch-irakischen Krieg. Die pro-iranischen Milizen, die sich nach 2003 in Bagdad in Form von politischen Parteien etabliert hatten, standen in einem engen Verhältnis zu Teheran.
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