Die DDR nur in Windeln erlebt

Bundestagswahlkreis 63 Bei der Linkspartei in Brandenburg übernimmt Stefan Kunath als Kandidat den Staffelstab von Thomas Nord

  • Andreas Fritsche, Schöneiche
  • Lesedauer: 4 Min.

Trifft die jüngste Prognose des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap zu, so sinkt Brandenburgs Linke bei der Bundestagswahl am 26. September von 17,2 auf elf Prozent. Trotzdem habe Kandidat Stefan Kunath eine »realistische Chance«, ins Parlament einzuziehen, heißt es Freitagabend in der Kulturgießerei von Schöneiche bei Berlin. Denn Kunath steht auf Platz vier der Landesliste seiner Partei. Gibt es einen extrem aufgeblähten Bundestag, so könnte Brandenburgs Linke theoretisch trotz Stimmenverlusten wieder vier Mandate erhalten so wie 2017.

32 Jahre alt ist Kunath, halb so alt wie der Bundestagsabgeordnete Thomas Nord (Linke), in dessen Fußstapfen er im Wahlkreis 63 treten möchte. Der mittlerweile 64-jährige Nord hatte diesen Wahlkreis, der aus der Stadt Frankfurt (Oder) und dem Landkreis Oder-Spree besteht, 2009 einmal gewonnen und sitzt seither im Bundestag. Nun tritt er nicht wieder an.

Ein Gespräch mit Nord und Kunath am Freitagabend in der Kulturgießerei ist eine Art Staffelstabübergabe. Anschließend gibt Nord dem Jüngeren noch Ratschläge für den Wahlkampf. Im Jahr 2000 zog Nord aus Berlin nach Brandenburg, wurde dort zunächst Wahlkreismitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke in der Prignitz, dann Landesgeschäftsführer und Landesvorsitzender, schließlich selbst Bundestagsabgeordneter. Seit 2018 ist Thomas Nord wieder Berliner. Er kehrte heim, als er Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) heiratete, mit der er vorher schon lange liiert war.

Nachfolger Kunath ist gebürtig aus Frankfurt (Oder), Mutter Altenpflegerin, Vater Eisenbahner. Der Sohn studierte Politik, Soziologie und Europawissenschaften, arbeitet seit 2017 für den EU-Parlamentarier Martin Schirdewan. Den Bundestagswahlkreis 63 könnten die CDU, die AfD oder die SPD gewinnen, vielleicht sogar Die Linke. Das lässt sich gerade sehr schwer vorhersagen.

Jonatan Zint, der das Gespräch moderiert, ist Jahrgang 1991 und stammt aus dem Westen. Ihn interessiert, warum der kaum ältere Kunath den Slogan »Ostmut tut gut« auf seine Plakate drucken ließ. 1989 kam Kunath zur Welt, hat »die DDR nur in Windeln erlebt«, wie er sagt. Aber die Benachteiligung der Ostdeutschen bei Arbeitszeiten, Löhnen und Renten ist etwas, wogegen er angehen will. Senior Nord stellt klar, er sortiere Menschen nicht nach ihrer Herkunft. »Die Widersprüche sind nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Oben und Unten zu klären«, meint er. Kunath pflichtet bei: Die Trennlinie verlaufe zwischen »Kapital und Arbeit«, zwischen »FDP und Linke«.

Auch wenn Die Linke im Moment nicht gut dasteht, hat sie viel erreicht, meint Nord. Dass 47 Prozent der Berliner am 26. September bei einem Volksentscheid dafür stimmen wollen, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen, hält er für »bemerkenswert«. Eine Debatte über Vergesellschaftung - die am besten auch bei Agrarflächen geführt werden sollte - wäre in den Jahren nach dem Zusammenbruch des Sozialismus unmöglich gewesen, erinnert er. »Dass diese Tore plötzlich wieder offen sind, hat auch mit der Linken zu tun.«

In Schöneiche scheint er da allerdings nicht ganz an der richtigen Adresse zu sein. Die Veranstaltung wird ins Internet übertragen, zählt dort 51 Aufrufe. Aber vor Ort sind nur 16 Bürger, überwiegend Senioren, die ein Eigenheim haben. In der rund 13 000 Einwohner zählenden Gemeinde gibt es kaum Mieter. Die Leute haben andere Sorgen. Eine Frau erzählt: Wenn vorgeschrieben wird, dass Dächer mit Solarpaneelen nachzurüsten sind, dann könnten sich das Menschen mit geringen Renten nicht leisten. Sie müssten ihr Häuschen dann verkaufen. Kunath verspricht, er würde sich als Bundestagsabgeordneter auch in solchen Fällen für sozial gerechte Lösungen einsetzen. Klar sei allerdings, dass etwas gegen den Klimawandel unternommen werden müsse.

Thomas Nord versucht auf Nachfrage aus dem Publikum zu erklären, warum Die Linke gegenwärtig nicht besser dasteht. In den 1990er Jahren sei die PDS die Stimme der Verlierer der Wende gewesen. Das sei ein »Alleinstellungsmerkmal« gewesen. »Die anderen Parteien haben die Einheit gefeiert.« Um die Jahrtausendwende sei dies den Menschen schon nicht mehr so wichtig gewesen, auch wenn es einige bis heute beschäftige. Bei der Bundestagswahl 2002 scheiterte die PDS an der Fünf-Prozent-Hürde. Dann habe die SPD mit ihrer Agenda 2010 den Sozialstaat fallen gelassen. Die PDS plakatierte bei der Landtagswahl 2004 in Brandenburg »Hartz IV ist Armut per Gesetz« und meldete sich eindrucksvoll zurück. Der aktuelle SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz gehörte übrigens zu den Erfindern der Agenda 2010, betont Nord. Heute gehe es darum, wer für die Coronakrise bezahlen muss - und da traue er Scholz nicht über den Weg.

2016 seien viele Flüchtlinge gekommen, die Globalisierung sei spürbar geworden, fährt Nord mit seiner Analyse fort. Gregor Gysi habe richtig bemerkt, Die Linke sei nicht für ihre Positionen zur Asylpolitik gewählt worden, sondern trotz dieser Positionen. Das funktioniere nun nicht mehr. »Wir müssen uns als Partei die Frage stellen, wie man mit den Folgen der Globalisierung umgehen will.« Er persönlich findet, Abschottung könne nicht der Weg sein.

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