Werbung

Staatsstreich von oben geht weiter

Der tunesische Staat ist gekennzeichnet durch chronische Korruption und befindet sich auf der Reise in eine ungewisse Zukunft

  • Mirco Keilberth
  • Lesedauer: 9 Min.

Sechs Wochen ist es nun her, nachdem Präsident Kais Saied den Regierungschef Hichem Mechichi und das Parlament entmachtet hat. Seitdem warten die Tunesier immer noch auf einen konkreten Fahrplan für die Rückkehr zur Demokratie und fragen sich inmitten drängender politischer und wirtschaftlicher Probleme, wie die Zukunft aussehen wird.

Das scheint Staatspräsident Kais Saied nicht zu rühren. Der vor zwei Jahren mit überwältigender Mehrheit in den Präsidentenpalast gewählte Juraprofessor hatte sich wenige Minuten vor Ablauf des ursprünglich auf 30 Tage begrenzten Maßnahmenpakets per Facebook zu Wort gemeldet. Ursprünglich hatte er die Aussetzung der Demokratie mit der Untätigkeit von Parlament und Regierung inmitten der Corona-Krise begründet. Nun sieht Kais Saied das Parlament selbst als Gefahr und verlängerte seine Machtübernahme auf unbestimmte Zeit.

Damit bleibt das von der Armee bewachte Parlament verschlossen. Da Saied mit seinem Putsch auch die Immunität der Abgeordneten aufgehoben hat, wurden 64 Volksvertreter aufgrund bestehender Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Der unabhängige Abgeordnete Yessin Ayari wurde wegen Beleidigung der Armee zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Gegen andere Abgeordnete laufen Anklagen wegen Korruption, illegaler Parteispenden und Körperverletzung.

Mehrmals hatten Vertreter der islamistischen Karama-Fraktion säkuläre Oppositionspolitiker im Parlament geschlagen. Abir Moussi, die Vorsitzende der größten Partei, war vor der Sommerpause schließlich nur noch mit Helm und schusssicherer Weste in das Parlaments-Gebäude im Stadtteil Bardo gekommen. Die live übertragenen Tumulte sind ein Grund, warum laut dem Umfrageinstitut Sigma weit mehr als 80 Prozent der Tunesier Kais Saieds Staatsstreich für gut heißen. Auch eine Regierung scheint niemand sonderlich zu vermissen seitdem der als Bürokrat verschriene Premier Hichem Mechichi, der im Sommer bei einem weltweiten Rekord gestiegener Zahlen von Corona-Infektionen und -Toten untätig zuschaute.

Schon in den Monaten zuvor hatte Saied mehreren von Mechichi ernannten Ministern die laut Verfassung nötige Zustimmung versagt. Das Patt zwischen Parlament, Regierung und dem stets pathetisch-staatstragend auftretenden Präsidenten endete am 25. Juli mit einem Paukenschlag. Die drohende Gefahr zwänge dazu, Paragraf 80 der Verfassung anzuwenden und vorübergehend die Macht zu übernehmen, teilte Saied während seiner Ansprache an das Volk in Gegenwart von Armee- und Polizeigenerälen mit.

Viele Juristen und Menschenrechtsorganisationen bezweifeln Saieds Auslegung des 2015 mit der Verfassungsreform eingeführten Paragrafen, der eine Dauersitzung der Parlamentarier vorsieht. Amnesty International fordert die Aufhebung der verhängten Reisebeschränkungen von mindestens 50 Politikern und Geschäftsleuten.
Das in 21 Parteien zersplitterte Parlament selbst hat dem zunehmend autoritär auftretenden Präsidenten den Weg zu einer Alleinherrschaft mit präsidialen Machtbefugnissen nach französischem Vorbild geebnet. Auch nach sechs Jahren Verhandlungen konnte man sich nicht auf ein Verfassungsgericht einigen, das nun über die Legalität von Saieds Putsch urteilen könnte.

Der Widerstand der Abgeordneten gegen Saied ist überraschend schwach, lediglich einige Vertreter der Karama-Bewegung und der Ennahda-Partei versuchten am 26. Juli, die am Parlaments-Eingang postierten Soldaten davon zu überzeugen, sie zu ihrem Arbeitsplatz durch zu lassen. Viele Aktivisten glauben, dass Saied die Parlamentarier sogar vor Schlimmeren gerettet hat. Den Staat erleben viele Tunesier seit der Revolution von 2011 als Hauptakteur der grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft.

«Die Abgeordneten sind der Inbegriff dafür geworden, dass Demokratie nicht nur aus Wahlen besteht. Die bisherige Vetternwirtschaft akzeptieren wir nicht mehr», sagt der Aktivist Omar Ben Amor aus der Hafenstadt Sfax. Am Vormittag des 25. Juli, dem Tag der Republik, stürmten in Sfax und elf anderen Städten meist arbeitslose junge Demonstranten die Büros der Ennahda-Partei und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. «Auf diese Eskalation der Straße hat Kais Saied gewartet», glaubt Ben Amor. Wie so viele seiner Generation unterstützt der 29-Jährige die Maßnahmen des Präsidenten mit einer gehörigen Portion Skepsis. «Außerhalb von Tunis kämpfen wir gegen Korruption in Justiz, Polizei und Verwaltung», sagt der Kameramann Ali, der sich zusammen mit Omar um verurteilte Jugendliche in Gefängnissen kümmert. «Kaies Saied und die Parlamentarier in Tunis sind uns erst einmal egal.»

Tunesier machen moderat islamistische Partei für Misere verantwortlich

Das ansonsten politisch gespaltenen Tunesien scheint sich nur in einem einig: Die seit zehn Jahren in allen zehn Regierungen vertretenen moderaten Islamisten der Ennahda sind Schuld an der aktuellen Misere. Parlamentspräsident Rahed Ghannouchi ließ die gegenseitigen Schmähungen der Parlamentarier geschehen. Der 80-Jährige ist Vorsitzender und Mitbegründer der moderaten Ennahda, die unter Langzeitherrscher Ben Ali verfolgt und seit 2011 aus dem Exil zurückkehrte. Sein Parteifreund Abdelkarim Harouni hatte den Volkszorn mitten in der größten Krise seit der Staatsgründung auf die Ennahda gezogen. Er forderte die Regierung ultimativ auf, bis zum 25. Juli die 16 000 Opfer des Ben-Ali-Regimes finanziell zu entschädigen. Die Mehrheit auf der Liste sind von den Sicherheitsbehörden verfolgte Ennahda-Anhänger. «Dass Ennahda eine Wiedergutmachung ausschließlich für ihre Parteimitglieder forderte, hat die Wut der Leute zum Überlaufen gebracht», so Omar.

Seine Alleinherrschaft hat der Staatsrechtler Saied bisher nur dazu genutzt Provinzgouverneure auszutauschen, Führungspersonal im Sicherheitsapparat zu entlassen und seinen Tonfall gegen die die Parteien und Parlamentarier zu verschärfen. Ansonsten ist es in dem riesigen Präsidentenpalast mit Parkanlage in dem Nobelviertel Carthago still. Viele Berater Saieds hatten sich bereits vor dem 25. Juli zurückgezogen. «Saied ist beratungsresistent», sagt der ehemalige Wahlkampfmanager Mohamed M. dem «nd».

«Dem Präsidenten fehlt es dadurch an Einblick in die Institutionen und Gesellschaft, sagt er und möchte seine Kritik lieber anonym äußern. Der Ausgang des Experiments sei völlig offen, glaubt der 37-Jährige, das sehe man schon daran, dass Saied entgegen seiner Ankündigung keinen Premierminister präsentieren kann. Der weltweit renommierte Zentralbankchef Marouane Abassi nahm seine Zusage offenbar wieder zurück.

Mangels Fahrplan haben die Gewerkschaft UGGT und die Zivilgesellschaft mithilfe von Experten die Initiative für einen Reformprozess übernommen. Demnach soll die Zersplitterung des Parlaments durch eine Prozenthürde verhindert werden. Ehemalige Organisatoren von Saieds Wahlkampfteam glauben, dass Saied sich die Zeit nimmt, um die Demokratie in Tunesien umfassend zu reformieren. Seit 2011 wirbt der Staatsrechtler für ein Parlament, das auf Lokalräten basiert und nicht auf politischen Parteien.

Würden Saieds basisdemokratische Ideen wohl bei Saieds internationalen Unterstützern gut ankommen? Jede Woche landen auf dem Flughafen Tunis-Carthage Militärmaschinen aus Ägypten, Saudi-Arabien oder Kuwait mit Impfdosen, Sauerstoff für Covid Patienten oder Löschfahrzeuge zur Bekämpfung von Waldbränden. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben Saied Kreditzusagen gemacht. »Auch wir werden uns genau anschauen, was Kais Saied vorhat«, warnt Omar Ben Amor,» und gehen wieder auf die Straße, wenn die Demokratie in Gefahr ist«.

Islamisten und Wirtschaftselite fürchten den Präsidenten

Sofiene Kalel dreht sich auf dem Stuhl des Straßencafés nach links in Richtung Innenministerium und schüttelt den Kopf. Mitten auf der Flaniermeile Avenue du Bourguiba schützen mit Stacheldraht verstärkte Metallgitter und davor postierte Polizisten die zweite Schaltzentrale der Macht Tunesiens. »Als Bürger hat man keine Chance, Einblick in das Ministerium zu erlangen, wie vor 2011. Nur politische Parteien haben dort in den letzten zehn Jahren ihre Leute platziert, allen voran die Ennahda, die bis zum 25. Juli viele Führungsposten besetzt hielt. Das Innenministerium ist ein Symbol, wie die politischen Parteien in den letzten Jahren die staatlichen Institutionen unterwandert haben.«

»Nein, der 25. ist nicht das Ende der Demokratie,« sagt der Geschäftsmann Kalel entschieden. »Saied hat Tunesien sogar vor einem großen Unglück bewahrt. Ich bin mir sicher, dass die seit Monaten demonstrierenden Jugendlichen nach dem Abflauen der Corona-Welle spätestens im Herbst das Parlament gestürmt hätten.« In dem Gebäude hinter dem Stacheldraht, keine 300 Meter entfernt, wurde der Befehl gegeben, jeden Demonstranten verhaften zu lassen, der sich in den letzten Monaten auf die Straße wagte. Über 2000 Tunesier waren nach Demonstrationen am Jahrestag der Revolution im Februar zu langen Haftstrafen verurteilt worden. »Ich habe oft persönlich erlebt, dass die Demokratie nach 2011 nur eine Show war«, lacht der 50-Jährige, »vor allem für uns Unternehmer.«

Nach der Revolution waren zwar Ben Ali und der Clan seiner Frau weg, aber die Diktatur der Bürokratie blieb, klagt er. Mit einem von ihm entwickelten Konzept für die Produktion von Solarzellen ging Sofien Kalel 2014 zur staatlichen Bank STB und bat um einen Kredit in Höhe von einer Million Euro. Zu Regimezeiten wurden Kredite mit einem kurzen Anruf aus dem Präsidentenpalast an Parteifreunde freigegeben. Nach 2011 drohte vielen Bankmanagern ein Gerichtsverfahren. Politische Gegner drohten sich gegenseitig mit »Unterlagen« aus der Ben-Ali-Zeit.

Parteilose Unternehmer benötigen auch heute noch Monate, um in dem Papierkrieg mit Bürokratie und Behörden gegen Geld zu überleben: »Für einen normalen Bürger wie mich ist es praktisch unmöglich, einen Kredit zu erhalten. Wer allerdings in Parteien wie Ennahda ist, Kontakte in Regierung und Behörden hat oder zahlt, hat offene Türen. Regimeanhänger wechselten nach 2011 einfach die Partei, der Klientelismus ging unter anderem Namen weiter.«

Die Idee einer eigenen Solarzellenproduktion musste Sofiene Kalel schließlich aufgeben, jetzt ist er Vertreter eines spanischen Solarproduzenten für den Maghreb. »Die Banken geben seit 2015 nur noch dem Staat Geld, zu acht Prozent Zinsen, um ihn vor der Pleite zu bewahren«, resümiert Kalel die größte Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit Tunesiens.

Steuerhinterziehung und Korruption

Kais Saied will, dass Geschäftsleute durch Steuerhinterziehung oder Korruption erhaltenes Geld durch Investitionen in verarmten Gebieten zurückzahlen und straffrei ausgehen. Im Umlauf ist eine zehn Jahre alte Liste von 460 Namen von Firmen und Geschäftsleuten, die zu Ben Alis Zeiten Kredite erhalten hatten. Rund 345 Millionen Dinar, umgerechnet 120 Millionen Euro, wurden nie an die Banken abgestottert, vielen wurde unter Saieds Vorgänger Essebsi Amnestie gewährt. Dass Saied ein so gewichtiges Thema mit so einer »lahmen PR-Maßnahme« angehe, stimmt Kalel skeptisch. »Wir wollen konkrete Maßnahmen, keine Ankündigungen: Parlament und Wahlrecht reformieren, die Klientelnetzwerke vor und nach der Revolution lahmlegen, Arbeitsplätze schaffen. Dieses Mal aber richtig.«

Der Erwartungsdruck auf Saied steigt. Die Verfassungsrechtlerin Mouna Kraiem erklärte der Publikation »Tunisienumerique«, dass der Präsident mit seiner Ankündigung den Rahmen von Artikel 80 nun endgültig verlassen habe. Auch Kraiem unterstützt das Ende der politischen Blockade im Land. »Doch dass die Maßnahmen auf unbestimmte Zeit verlängert wurden und noch kein Reform-Fahrplan vorliegt, erkläre ich mir so: Die Präsidentschaft der Republik hat keinen wirklichen Plan und improvisiert.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!