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Westberlin, mon amour
Zeitzeug*innen erinnern sich an Höhepunkte queerer Subkultur - und die Brüche vor und nach der Wende
Normalerweise geht die Gleichung so: Aus DDR und BRD wird ... Gesamtdeutschland. Oder so. Doch ein Element fehlt in dieser Gleichung. Westberlin. »Was viele nicht wissen: Westberlin war eigentlich ein eigener Staat, wir hatten sogar eine eigene Verfassung. Nach der Wende wurde aus aus drei Ländern eins gemacht – nämlich Westdeutschland«, erzählt Manuela Kay humoristisch. Für die Mitherausgeberin der Zeitschriften »Siegessäule – Queer in Berlin« und »L-MAG – Das Magazin für Lesben« war die Berliner Mauer ein »Schutzwall gegen karrieregeile Typen«. Und innerhalb dieser Grenzen entstand – so wird es in vielen Beiträgen in dem Sammelband »Westberlin. Ein sexuelles Porträt« beschrieben – ein Paradies für Schwule, Lesben und Transmenschen. Und damit eine vielfältige LGBTIQ-Community. Auch wenn diese sich damals noch nicht so nannte.
Das Buch zeichnet dieses Porträt mit 17 Beiträgen aus ganz verschiedenen Perspektiven. Was die meisten Geschichten vereint, ist das Nachtleben. Dschungel, Kumpelnest 3000, S-Bahn-Quelle, O-Bar – auf der Veranstaltung »Sex Education #10: Sex ohne Sperrstunde. Das queere Leben in Westberlin«, wo das Buch vorgestellt wird, wird fleißig gesammelt. Immer wieder kommen laute Zwischenrufe aus dem Publikum. Es ist eine Unterhaltung von Zeitzeug*innen – und die sitzen hier nicht nur auf der Bühne. Man merkt: Westberlin wird vermisst. Diese Orte waren bedeutsam für die queeren Pionier*innen, dort konnte man hinkommen, wie man war. Und sich sicher sein, auf gleichgesinnte Menschen zu treffen.
Auch das Buch ist eine Arbeit von Zeitzeug*innen. Einzelne Textbeiträge stehen hier gleichberechtigt zwischen Interviews mit dem Herausgeber Heinz-Jürgen Voß und aufgezeichneten Gesprächen, bei denen augenscheinlich kaum gekürzt oder geglättet wurde. Doch das macht die Sammlung gerade so interessant. Man hat das Gefühl, die Protagonist*innen erzählten einem höchstpersönlich ihre Geschichte, auch wenn man nur Buchstaben auf Papier oder dem digitalen Endgerät vor sich hat. Da ist zum einen Nora Eckert, eine der Trans-Pionier*innen Westberlins. Sie kam 1973 in die Stadt und fand dort ihren Weg zum Frausein. Sie erzählt über ihre Zeit in dem Travestiecabaret Chez Romy Haag, als sie sich lieber »Fummeltante« nannte statt »trans«.
Für trans-Personen war es damals kaum möglich, Arbeit zu bekommen, der Personenstand konnte nicht so einfach geändert werden, Transfrauen konnten nach Paragraf 175 für Sex mit Männern im Gefängnis landen. Und Transmänner waren weitestgehend unsichtbar. Eckert erlebte diese Zeit trotzdem positiv: »Wir Transmenschen waren in den 70er Jahren nahezu rechtlos, aber wir konnten unbehelligt leben«, schreibt sie.
Und da ist Peter Hedenström, der aus der Provinz nach Berlin kam und hier eine schwule Subkultur fand, in der er in kürzester Zeit zu einem Protagonisten wurde. Er gründete mit Prinz Eisenherz den ersten schwulen Buchladen Deutschlands mit und wurde Teil der Homosexuellen Aktion Westberlin, der ersten Organisation der Schwulen- und Lesbenbewegung Deutschlands. Er erzählt von den berühmten Klappen, die es heute in der Form nicht mehr gibt. »Das war eine Möglichkeit Menschen kennenzulernen, ohne dass man – wie heute im Internet – alles angeben muss. Das hatte einen ganz bestimmten Reiz«, erzählt er. Hedenström reflektiert aber auch, wie weiß seine Szene damals war.
Das beschreibt auch Katharina Oguntoye, die Mitbegründerin der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD). Sie war damals sowohl in der afrodeutschen als auch in der lesbischen Bewegung aktiv. Doch beides habe getrennt voneinander stattgefunden. Dem Buch gelingt es zu zeigen, dass das queere Westberlin eben nicht nur weiß war. Etwa durch den Beitrag der bekannten DJ İpek İpekçioğlu, deren Ikonen – wie für viele türkeistämmige Westberliner Queers – Zeki Müren, Bülent Ersoy und Hatay Engin sind. Sie erzählt von ihrem Aufwachsen in »Migrantenklassen« und im Mädchenladen sowie ihrem Outing als lesbisch 1989/90.
Doch für die Sternstunden der Community ist sie zu jung. In den 80er Jahren wurde HIV zu einem großen Bruch für die LGTBIQ-Gemeinschaft. »Sexualität war plötzlich tödlich: kein revolutionärer Akt mehr, sondern ein Wagnis«, erinnert sich Manuela Kay auf der Veranstaltung. Auch im Buch kommt dieses Kapitel nicht zu kurz. Dieter Telge, der ab 1981 Teil von Aids-Selbsthilfebewegungen in der BRD und Westberlin war, beschreibt, wie sich das Virus zunächst als Geschichte aus den USA erzählt wurde, bevor es sich auch hier verbreitete. Anfangs wusste man wenig über Übertragungswege und die Konsequenzen eines positiven Testergebnisses. Gelobt wird in dem Beitrag die liberale Aids-Politik der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süßmuth (CDU). Durch zahlreiche Modellprojekte förderte sie letztendlich auch die selbst organisierten Hilfestrukturen in Westberlin.
Immense Menschenrechtsverletzungen. Gabriel_Nox Koenig vom Bundesverband Trans* über die im Bundestag gescheiterten Entwürfe für ein Selbstbestimmungsgesetz
Das Buch bietet kein konsistentes und eindeutiges Bild von Sexualität und Geschlecht in Westberlin. Aber es gibt sehr persönliche Einblicke in das jeweils eigene Porträt des Lebens in Westberlin. Und da sind die Themen nicht nur Sex, Partys und Musik, sondern auch Mieten, Arbeit und U-Bahnverkehr.
Sex Education #11 findet am 9. September um 19.30 Uhr in der Urania Berlin statt. Das Thema: Liebe zu dritt, viert, fünft. Wie Liebe jenseits der Zweier-Norm funktioniert. / Hein-Jürgen Voß: Westberlin – ein sexuelles Porträt. Psychosozial-Verlag, Broschur 323 S., 36,90 €.
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