• Politik
  • Friedensprozess steht auf Kippe

Libyens Fahrplan steht unter Beschuss

Die für den 24. Dezember vorgesehenen Wahlen sind durch neue Scharmützel zwischen Milizen in Gefahr

  • Mirco Keilberth
  • Lesedauer: 4 Min.

»Die Schüsse kamen wie aus dem Nichts. Innerhalb weniger Stunden standen sich Hunderte Kämpfer mit Luftabwehrgeschützen gegenüber.« Was der Student Hamzah El Naas dem »nd« am Telefon berichtet, ähnelt den Scharmützeln, die viele Hauptstadtbewohner in den vergangenen zehn Jahren immer wieder in Angst und Schrecken versetzt haben. Doch der psychologische Effekt der auf den Stadtteil Salaheddine beschränkten Schusswechsel zwischen der Brigade 444 und einer unbekannten Zahl von Kämpfern der »Ghnewa«-Hauptstadtmilizen ist groß. Denn damit wurde der seit dem Ende der Kämpfe um Tripolis im November 2019 bestehende landesweit geltende Waffenstillstand gebrochen. Erst kürzlich hatte Regierungschef Abdul Hamed Dbaiba noch versprochen: »Es wird keine Kriege mehr geben.«

Wie viele Tote und Verletzte die Kämpfe vom Wochenende zur Folge hatten, ist nicht bekannt. Die Waffen schweigen mittlerweile wieder. Die frischen Einschusslöcher an der Kaserne von Saleheddine zeigen den Ernst der Lage. Dort sind bis zu 2000 syrische Söldner stationiert, die vom türkischen Geheimdienst und der Armee befehligt werden. Die ehemaligen Anti-Assad-Kämpfer aus Idlib sind Teil der brüchigen Machtbalance, die zwischen Moskau und Istanbul in Libyen herrscht. Russland stützt dabei den abtrünnigen General Khalifa Haftar, die Türkei die sogenannte Einheitsregierung, die mittlerweile von einer Übergangsregierung abgelöst wurde. Auf der Seite von Haftars libyisch-arabischer Armee kämpfen auch sudanesische Söldner und russische Spezialisten.

Viele Libyer fühlen sich nur noch als Zuschauer in dem Ringen um Afrikas größte Ölvorräte. Dabei ging nach der Ernennung des Geschäftsmannes Dbaiba zum Übergangspremier im Februar ein Ruck durch das Bürgerkriegsland. Auf zwei Libyen-Konferenzen in Berlin entstand der Fahrplan für den Weg zu einer demokratisch legitimierten Regierung, die am 24. Dezember, Jahrestag der Unabhängigkeit Libyens, gewählt werden soll. Immer wieder betonten Vertreter der Libyen-Mission der Vereinten Nationen (UNSMIL) und westliche Diplomaten die Bedeutung der Einhaltung des Wahltermins, der als Wendepunkt auf dem Weg zu demokratischen Institutionen herhalten soll. Doch immer mehr libysche Analysten bezweifeln, dass Wahlen möglich sind, solange Milizen und Söldner die Straßen kontrollieren.

Die nach dem Wochenende wiederholte Forderung der UNSMIL-Mission nach Entwaffnung der Hauptstadtmilizen führt unter Tripolitanern höchstens noch zu zynischen Kommentaren. »Jeder weiß doch, dass die Regierung von den Milizen kontrolliert wird und nicht umgekehrt«, sagt der Ingenieur Mohamed Arajshi.

Der umtriebige Regierungschef Dbaiba versucht sein Bestes. In den ersten Wochen seiner Amtszeit besuchte der 62-Jährige mehr Regionen und Städte als sein Vorgänger Serradsch in vier Jahren. Mit einem Geldregen und Posten in der Verwaltung will er die Ost-West-Spaltung des Landes endlich beenden. Dass der aus der zentrallibyschen Handelsstadt Misrata stammende Dbaiba auch die Soldaten von Khalifa Haftar in sein Regierungsbudget aufnahm, führt bei den ehemaligen Verteidigern von Tripolis zu Empörung. Haftar hatte Tripolis mehr als zwölf Monate lang belagern lassen. Doch es ist ausgerechnet das in Haftars Herrschaftsgebiet tagende Parlament, das Dbaiba die Zustimmung zu dem Geldsegen für alle verweigert. Als klar wurde, dass der Parlamentspräsident Aguila Saleh seine Blockadehaltung nicht aufgeben würde, erhöhte Dbaiba sogar die geplanten Ausgaben von 96 Milliarden Dinar auf astronomische 118 Milliarden Dinar, umgerechnet 26 Millionen US Dollar. Die Zustimmung vom Parlament steht aber weiter aus.

Schon jetzt geht der größte Teil des Regierungsbudgets an die Milizen, die für die Sicherheit der Regierung sorgen, und an die Staatsangestellten. 70 Prozent der libyschen Arbeitnehmer sind direkt oder indirekt beim Staat angestellt.

Dass trotz der Bemühungen von Dbaiba der Wahltermin infrage steht, ließ Außenministerin Fathma Mangoush durchblicken. Die am Dienstag zu einem Staatsbesuch nach Griechenland gereiste Außenministerin deutete in einem Interview an, dass die Wahlen mangels eines Wahlgesetzes und ausreichender Sicherheit um einige Monate verschoben werden könnten.

Immerhin könnte es Dbaiba gelingen, die seit 2011 von politischen Leben ausgeschlossenen Anhänger des Ex-Diktators Muammar Al-Gaddafi mit dem neuen Libyen zu versöhnen. Zum einen hat der Präsidialrat am Montag die Freilassung von Muammar Gaddafis Berater Ahmed Ramadan bekannt gegeben. Der persönliche Sekretär des Langzeitherrschers hatte zusammen mit Hunderten politischen Gefangenen seit 2011 ohne Anklageschrift hinter Gittern gesessen. Zum anderen hatte Justizministerin Halima Ibrahim im April die Freilassung all jener Gefangenen angekündigt, denen keine Verbrechen nachgewiesen wurden. Dazu gehörte auch Saadi Gaddafi, einer der sieben Söhne des vor zehn Jahren von Aufständischen brutal gefolterten und getöteten Muammar Al-Gaddafi. Nun wurde Vollzug gemeldet. Saadi Gaddafi ist frei und flog noch am Tag seiner Entlassung in die Türkei. Bekannte der Gaddafi-Familie gehen davon aus, dass der nun dem Salafismus nahe stehende Saadi nach Kairo weiterreisen wird, wo seine Mutter im Exil lebt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.