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»Unabhängigkeit umsetzen«
Hunderttausende demonstrierten in Barcelona für die Loslösung von Spanien
Eine derart große Demonstration hatten auch die Veranstalter nicht erwartet. Nach deren Angaben haben am Samstag erneut Hunderttausende Menschen für die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien und für ein Ende der Strafverfolgung von Unabhängigkeitsbefürwortern protestiert. Nach Angaben des zivilen Katalanischen Nationalkongresses (ANC) waren etwa 400 000 Menschen auf den Straßen der katalanischen Metropole Barcelona. Die katalanische Polizei Guardia Urbana gab lediglich 108 000 an, obwohl praktisch die gesamte Demonstrationsroute vom Urquinaona-Platz bis zum Bahnhof Estació de França gefüllt war. »Un-, Un-, Unabhängigkeit« war auch an diesem 11. September die zentrale Losung, an dem die Katalanen ihren Nationalfeiertag Diada begehen.
Der Katalanische Nationalkongresses (ANC), die Kulturorganisation Òmnium Cultural und andere Gruppen wollten nach dem Covid-Jahr 2020 wieder massiv auf die Straße gehen. Das sollte allerdings unter Einhaltung von Sicherheitsabständen geschehen, weshalb eher zaghaft mobilisiert worden war. Riesige Zusammenballungen, wie bis 2019 sollten, vermieden werden, als während der Diada oft mehr als eine Million Menschen stundenlang dicht gedrängt standen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Erwartungen der ANC-Präsidentin Elisenda Paluzie sind in der Phase der »Neubelebung« weit übertroffen worden. Der ANC hatte gut 100 000 Teilnehmer erwartet, um dem Fall Barcelonas 1714 unter die spanische Bourbonenherrschaft zu gedenken. Doch das Bedürfnis, gemeinsam wieder auf die Straße zu gehen, war enorm. Die Bewegung hat mit der bisher größten Demonstration in Europa seit Ausbruch der Pandemie gezeigt, dass mit ihr weiter zu rechnen ist. Im letzten Jahr vor der Pandemie - 2019 - zählte die Guardia Urbana 600 000 Teilnehmer.
Der Òmnium-Chef Jordi Cuixart, der erst kürzlich nach mehr als drei Jahren unter Bedingungen aus der Haft freikam, forderte eine »große gemeinsame Strategie«, um eine Amnestie und die Unabhängigkeit zu erreichen. Spanien hatte ihn und andere Anführer der Bewegung nach massiver Kritik des Europarats »begnadigt« - real wurde aber nur die Reststrafe auf Bewährung ausgesetzt. Der Forderung, die Repression zu stoppen, kam Spanien nicht nach. Mehr als 3000 Aktivisten sind weiter Verfahren ausgesetzt.
Dass bei den Gesprächen beim anstehenden Runden Tisch zwischen den Regierungen in Barcelona und Madrid eine Konfliktlösung erreicht werden kann, wird von vielen in der Unabhängigkeitsbewegung stark bezweifelt, weshalb man sich auf das Scheitern vorbereiten müssen, erklärte Paluzie. Eigentlich sollte der Dialog schon im Februar 2020 beginnen. Von Verhandlungen zur Konfliktlösung spricht die sozialdemokratische Regierung in Madrid unter Pedro Sánchez ohnehin nicht. Bisher sind weder der genaue Zeitpunkt noch Tagesordnung bekannt. Unklar ist zudem, ob Sánchez selbst teilnehmen wird.
Angesichts des Massenprotests twitterte so der frühere katalanische Regierungschef Quim Torra: »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren: Unabhängigkeit.« Die ANC-Präsidentin sprach auf der Abschlusskundgebung den neuen Regierungschef Pere Aragonès direkt an: »Präsident, setzen Sie die Unabhängigkeit um.« Die Zentralregierung in Madrid werde nie Zugeständnisse machen, nutze die Gespräche nur, um die Bewegung zu schwächen. Paluzie forderte, den Willen umzusetzen, den 52 Prozent der Wähler bei den Wahlen im Februar ausgedrückt haben.
Aragonès und seine Republikanische Linke (ERC), die in Madrid mit ihren Stimmen Sánchez auf den Sessel des Regierungschefs gehievt haben und seine Minderheitsregierung stützen, erklären, allein dass es zum Dialog kommt, sei ein Erfolg. Aragonès forderte »Einheit« vom zentristischen Koalitionspartner »Gemeinsam für Katalonien« (JxCat) und von der antikapitalistischen CUP, die die katalanische Minderheitsregierung stützt. Ansonsten sollten sie eine Alternative vorlegen.
Gestärkt wurde die Skepsis durch das einseitige Vorgehen der spanischen Regierung im Streit um die Erweiterung des Flughafens von Barcelona. Madrid hat einseitig eine vereinbarte Investition von 1,7 Milliarden Euro wieder ausgesetzt. Das Projekt ist in der katalanischen Regierung umstritten, doch das gilt auch für die spanische. Der linke Koalitionspartner der Sozialdemokraten in Madrid, Unidas Podemos (UP), lehnt es in dieser Form ab, weil es das Naturschutzgebiet »La Ricarda« teilweise zerstören würde. Es sei »nicht vereinbar mit dem Klimanotstand, den wir erleben«, erklärte die UP-Ministerin und Vizeministerpräsidentin Yolanda Díaz.
Dass nicht einmal dieser Vorgang mit den Katalanen verhandelt wurde, ist für viele ein Zeichen dafür, dass von Verhandlungen mit Madrid nichts zu erwarten ist. Sogar Aragonès zeigte sich empört, sprach von Erpressung. Die Madrider Regierung schreibe vor, wie die Erweiterung laufen soll und wenn ihre Vorstellung abgelehnt werde, würde auch die Investition zurückgezogen. Der katalanische Regierungschef will zwar beide Vorgänge trennen, aber die Position seiner ERC wurde darüber weiter geschwächt. Auch das hat die Demonstration sehr deutlich gemacht.
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