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Rudow organisiert sich gegen Neonazis
SPD-Spitzenkandidatin verspricht Betroffenen rechten Terrors Untersuchungsausschuss zu Neukölln-Komplex
Gegen Ende kann Franziska Giffey noch einmal richtig zu Hochform auflaufen. »Konsequente Strafverfolgung, Prävention und politische Bildung stärken, mehr Orte schaffen, an denen diese stattfinden kann, und mehr Opferschutz und Opferberatung«, zählt die SPD-Spitzenkandidatin und Bürgermeisteraspirantin aus dem Wahlkreis 6 Rudow am Montagabend Maßnahmen auf, die es aus ihrer Sicht braucht, um dem erstarkenden Rechtsextremismus im Land Berlin etwas entgegenzusetzen. Die ehemalige Bundesfamilienministerin, die trotz wiederholter Plagiatsvorwürfe sicher im Sattel der Spitzenkandidatur sitzt, ist in ihrem Element. Bis kurz vor ihrem Rücktritt auf Bundesebene, bis zum Mai dieses Jahres, hat sie noch versucht, ein Demokratiefördergesetz auf die Beine zu stellen, das die langfristige Finanzierung von hauptamtlichen und zivilgesellschaftlichen Projekten gegen Rassismus und Rechtsextremismus ermöglichen und Initiativen besser absichern sollte. Die Union im Bund blockierte das Vorhaben, man einigte sich auf ein Eckpunkte-Papier statt auf ein »Wehrhafte-Demokratie-Gesetz«, wie Giffey es vorhatte. Geht es nach der ehemaligen Neuköllner Bezirkspolitikerin soll so ein Gesetz bald zumindest in Berlin umgesetzt werden, sagt sie.
Vor ihr sitzen und stehen mehr als 60 Menschen, die der Einladung der Initiative »Rudow empört sich« zu einer Podiumsdiskussion in der Evangelischen Kirchengemeinde in der Köpenicker Straße gefolgt sind. Unter Sicherheitsvorkehrungen sind neben Giffey an diesem Abend auch Philine Niethammer von den Grünen, Olaf Schenk (CDU) und Niklas Schrader (Die Linke) da, um ihre Positionen darzulegen, wie sie sich die Aufklärung des sogenannten Neukölln-Komplexes zukünftig vorstellen. Dieser hat mit bisher 72 polizeilich erfassten rechten Anschlägen, darunter 23 lebensbedrohlichen, nicht nur über Jahre für Angst, Traumatisierung und Wut bei den Betroffenen gesorgt, sondern auch dazu geführt, dass sich einige von ihnen in der Stadtteilinitiative zusammengeschlossen haben. Darunter sind die Publizistin Claudia von Gélieu sowie der Buchhändler Heinz Ostermann, dessen Buchladen »Leporello« mehrfach von mutmaßlich Rechtsextremen mit Brandanschlägen attackiert wurde.
- Berlins Zivilgesellschaftliche Initiativen haben jüngst ihren Jahresbericht zu den Entwicklungen der extremen Rechten vorgestellt. »Berliner Zustände – ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus« beschreibt auf über 100 Seiten die Tendenzen in diesem Komplex, der 2020 v. a. durch die Pandemie und die Maßnahmen zu deren Eindämmung geprägt war, gegen die extrem rechte Gruppierungen mobilisierten.
- »Im Jahr der Pandemie und insbesondere bei den Corona-Protesten ist erneut sichtbar geworden, was Einstellungsuntersuchungen seit Jahren auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft feststellen und wovor zivilgesellschaftliche Organisationen oft gewarnt haben: Menschen, die vorgeblich für Freiheitsrechte auf die Straße gingen, artikulierten oft antisemitische Verschwörungserzählungen, verknüpft mit demokratie- und wissenschaftsfeindlichen Haltungen«, erklärte anlässlich der Veröffentlichung die Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), Bianca Klose.
- Die MBR ist gemeinsam mit dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin Herausgeber des Berichts, der seit 2006 jährlich verfasst wird. Die aktuelle Broschüre kann im Internet unter anderem hier abgerufen und heruntergeladen werden.mkr
»Vernetzung und Solidarität sind die wichtigsten Mittel gegen rechten Terror«, erklärt von Gélieu eingangs. Den Namen »Rudow empört sich« habe man gewählt, weil 2018 mehr als 2000 Menschen aus dem Stadtteil mit einer Postkarten-Aktion gegenüber Innensenator Andreas Geisel (SPD) ihre Empörung zum Ausdruck gebracht hatten, dass die bisherige Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit zu der Serie schleppend und ungenügend verlaufe. Sie selbst sei davon »bitter enttäuscht« fügt sie hinzu.
Auch Bianca Klose, Moderatorin der Debatte und zudem seit über 20 Jahren Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin, hebt hervor, dass es sich bei den Ermittlungen zur Neuköllner Anschlagsserie nicht nur um eine Serie von »Pleiten, Pech und Pannen« gehandelt habe. Es gebe nicht nur sehr viele Betroffene, die davon ausgehen, dass »nicht motiviert ermittelt« wurde. Auch extra eingesetzte Sonderermittler und die »Besondere Aufbauorganisation Fokus« der Polizei haben zwar klare Defizite bei den ermittelnden Behörden benannt, aber bislang nicht dazu geführt, dass den mutmaßlichen Tätern ihre politisch motivierten Verbrechen zur Last gelegt werden konnten. Bisherige Anklagen gegen die Verdächtigen Sebastian T. und Tilo P. waren erfolglos, aktuelle Anklagen wurden noch nicht vor Gericht verhandelt.
Als der CDU-Kandidat Olaf Schenk auf dem Podium erklärt, es brauche eben Zeit für solche umfänglichen Ermittlungen, widerspricht ihm Mirjam Blumenthal von der Neuköllner SPD, die sowohl zu den Betroffenen rechter Brandangriffe auf das Anton-Schmaus-Haus gehört, Begegnungsort der SPD-Jugendorganisation Die Falken, wie auch als Person direkt attackiert wurde: »Ich habe keine Zeit mehr – mein Leben und das Leben meiner Familie findet unter Polizeischutz statt.« Die miserable Ermittlungsarbeit führe dazu, dass sich die Täter sicher fühlten und sich weiter politisch betätigten. Wie zum Beweis sind sowohl T. als auch P. an diesem Abend gemeinsam vor das Kirchtor gekommen. Sie werden daran gehindert, das Gelände zu betreten.
Nicht zuletzt deshalb fordern viele Angegriffene zusammen mit über 25 000 Unterstützer*innen, die im Internet unterschrieben haben, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum vermeintlichen Behördenversagen. Ob das neue Abgeordnetenhaus nach dem 26. September seiner politischen Kontrollaufgabe gegenüber den Behörden gerecht werden wird, will man in Rudow wissen. Einzig die Linkspartei hatte sich seit 2019 dafür eingesetzt. Dann waren kurzfristig mittels ihres Wahlprogramms auch die Landesgrünen und schließlich kurz vor dem Sommer auch die SPD darauf eingeschwenkt.
Und so verspricht Franziska Giffey an diesem Abend nicht nur ein Demokratiefördergesetz für das Land Berlin, sondern auch einen Untersuchungsausschuss im neuen Parlament. »Viel zu viel Zeit ist schon vertan worden«, kritisiert Niklas Schrader von der Linkspartei. Er hoffe, man werde im Zuge der Vorbereitung eines solchen Ausschusses vor allem den Betroffenen zuhören: »Diese wissen am besten, was sie in Erfahrung bringen wollen«, sagt der Linke-Innenpolitiker.
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