Die unsichtbaren Opfer von 9/11

SCHWARZ AUF WEIß: Katastrophen sind nicht universal, meint Sheila Mysorekar. Weltbewegende Ereignisse treffen uns ganz unterschiedlich. Das gilt auch für Terroranschläge.

Tagelang haben wir nun Rückblicke auf die Terroranschläge vom 11.September vor 20 Jahren gesehen: Videos des Momentes, als die Flugzeuge im Twin Tower in Manhattan explodierten. Berichte von Einwohnern New Yorks, die sich an die dramatischen Ereignisse dieses Tages erinnern. Analysen der Hintergründe des Anschlags.

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 170 postmigrantischen Organisationen. Für „nd“ schreibt sie die monatliche Medienkolumne „Schwarz auf Weiß“.

Am 11.September 2001 arbeitete ich in Kolumbien. Irgendwann am Morgen sagte jemand: »Schaut mal, was gerade in New York passiert!« Und dann stand ich mit einigen Kolleg*innen vor einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher und wir sahen live, wie das zweite Flugzeug in das World Trade Center einschlug und in einem Feuerball zerbarst.

Die dramatischen Ereignisse in den USA beschäftigten auch in Kolumbien wochenlang die Medien. Was mich jedoch überraschte: Als die Zahl der Opfer feststand – 3000 Tote – winkten viele Kolumbianer*innen gelangweilt ab, mit der Anmerkung, »so viele Terroropfer haben wir hier jedes Jahr!«

Terrortote in Kolumbien, Opfer der US-Drohnenangriffe in Afghanistan, Tausende von 'Verschwundenden' und Ermordeten nach dem Militärputsch in Chile am 11.September 1973 - es gibt viele dramatische Ereignisse, Terror und Massenmorde, die nicht die Aufmerksamkeit der globalen Medien bekommen als etwas, das ‚uns alle’ betrifft.

Beim Massaker von Srebrenica in Bosnien vom 11.-19.Juni 1995 wurden 8000 bosnische Männer und Jungen im Alter ab 13 Jahren von serbischen Milizen ermordet. Ich kann mich nicht erinnern, dass je in hiesigen Medien Deutsche interviewt wurden mit Fragen wie: »Wo waren Sie, als Sie von dem Massaker in Bosnien erfuhren? Was fühlten Sie damals?«

Dass uns heute, 20 Jahre später, der terroristische Anschlag von 9/11 als »weltgeschichtliches Ereignis« (dpa) und »tödlichster Anschlag der Weltgeschichte« (Die Zeit) präsentiert wird, hat weniger mit der Zahl der Opfer als mit der hohen Symbolkraft der zerstörten Objekte zu tun. Wikipedia beschreibt es in nüchternen Worten: »Die Terroranschläge am 11. September 2001 waren vier koordinierte Flugzeugentführungen mit nachfolgenden Selbstmordattentaten auf symbolkräftige zivile und militärische Gebäude in den Vereinigten Staaten von Amerika.« Die Menschen in den USA und den verbündeten Staaten verstanden diesen Anschlag genauso, wie er gemeint war: als Angriff auf die Machtzentren der westlichen Welt.

Unsere Wahrnehmung der Dramatik eines bestimmten Ereignisses hängt stark von der medialen Präsentation ab. Das heißt: Je mehr Aufmerksamkeit einem Anschlag oder Massaker gewidmet wird, je mehr es uns als umso genauer erinnern wir uns auch als Nicht-Betroffene daran.

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Doch die Terrorattacke des 11.September 2001 resultierte für unterschiedliche Menschen in ganz unterschiedlichen Traumata. Für die Angehörigen lagen sie in der Trauer um die Getöteten; für die Einwohner*innen New Yorks im Schrecken der einstürzenden Wolkenkratzer und monatelang anhaltenden giftigen Dämpfen in der Luft, aufgrund derer viele Menschen an Krebs und Lungenleiden erkrankten.

Für die muslimische Community in den USA markierten diese Anschläge jedoch den Beginn eines permanenten Generalverdachtes und der Kriminalisierung einer gesamten Religionsgemeinschaft. Und nicht nur des Islams: In den USA wurden mehrere Sikhs »aus Rache für 9/11« getötet, weil die Mörder sie aufgrund ihrer Turbane für Muslime gehalten hatten. Hunderte von Verdächtigen aus aller Welt wurden in das US-Gefangenenlager Guantánamo verschleppt und dort ohne Anklage jahrelang inhaftiert und gefoltert. 39 sitzen immer noch dort.

Und wegen 9/11 begann der Krieg in Afghanistan. Wenn wir jetzt – 20 Jahre danach – das Ritual einer gemeinsamen Erinnerung begehen, das zum Aufarbeiten eines traumatischen Ereignisses wichtig und heilsam ist, dann müssen wir das inklusiver denken: Im »Krieg gegen den Terror« in Afghanistan sind viele Soldat*innen und mindestens eine Viertelmillion afghanische Zivilist*innen getötet worden. Sie sollten im Gedenken um die 3000 Opfer vom Anschlag am 11.September nicht vergessen werden.

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