Zu viele Warteschleifen beim Nahverkehrsausbau

Berlin und Brandenburg können sich beim Wiederaufbau der Stammbahn nicht einigen, auch bei der Tram läuft es zäh

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

»Bei der Stammbahn muss irgendeine Entscheidung fallen, aber sie muss fallen«, sagt Jens Wieseke. Der Sprecher des Berliner Fahrgastverbands IGEB will keine weiteren Verzögerungen mehr beim Wiederaufbau der Verbindung von Berlin nach Potsdam über Zehlendorf. Vom Potsdamer Platz bis Zehlendorf fährt derzeit die S1 auf der 1838 als erste Eisenbahnstrecke Preußens - daher der Name - eröffneten Strecke. Doch dann biegt sie Richtung Wannsee ab. Seit dem Mauerbau 1961 ist der Verkehr zwischen Berlin-Zehlendorf und dem Potsdamer Bahnhof Griebnitzsee unterbrochen. Bis 1980 pendelte die S-Bahn noch auf dem Teilstück bis zur Berliner Stadtgrenze in Düppel.

Im Zentrum des Streits um den Wiederaufbau steht die Frage, ob er in Form einer S-Bahn mit Stromschiene oder als Regionalbahn mit Oberleitung erfolgen soll. Die Berliner Senatsverkehrsverwaltung präferiert die S-Bahn, weil dies mit geschätzten 550 Millionen Euro Wiederaufbaukosten günstiger ausfällt. DB Netz und das Land Brandenburg wollen eine Regionalbahnlösung. Dafür müssten neue Gleise ab dem Ende des Nord-Süd-Fernbahntunnels in Berlin-Schöneberg gelegt werden. Außerdem soll eine Gleisverbindung zu den Ferngleisen des Südrings entstehen. Die Kosten würden deutlich höher ausfallen, allerdings würde das Eisenbahnnetz gestärkt. Die Verbindung ist jedoch in der aktuellen Version des Bahn-Ausbaukonzepts Deutschlandtakt nicht mehr enthalten.

»Für mich ist es ein Unding, dass die Stammbahn aus dem Deutschlandtakt-Konzept gestrichen worden ist. Das heißt, dass der Bund sich nicht an der Finanzierung beteiligen will. Damit die für Berlin billigere S-Bahn-Variante durchzusetzen, wäre kurzsichtig«, sagt Christian Görke, Verkehrsexperte der Linksfraktion im Brandenburger Landtag.

Als »Armutszeugnis für die Verkehrsministerien beider Bundesländer« bezeichnet Kristian Ronneburg, verkehrspolitischer Sprecher der Berliner Linksfraktion, »dass es nach jahrelangen Prüfungen und Diskussionen weiterhin keinen Planungsfortschritt beim Wiederaufbau der Potsdamer Stammbahn gibt«. Für ihn ist klar: »Nur der Wiederaufbau der Stammbahn als Regionalbahntrasse macht diese zu einer echten Entlastungsstrecke für den Eisenbahnverkehr in der Hauptstadtregion, über die nötigenfalls auch Fernzüge umgeleitet werden können.«

Der Berliner Linke-Spitzenkandidat Klaus Lederer verweist bei einem Online-Gespräch zur Berliner Verkehrspolitik mit Fahrgastvertreter Wieseke auf das eigene Partei-Konzept einer gemeinsamen Infrastrukturgesellschaft von Berlin, Brandenburg und Bund, um ausreichend Planungskapazitäten für die zahlreichen Schienenausbauprojekte in der Region zu bekommen. Denn diese sind ein Flaschenhals beim Ausbau.

»Wir müssen uns klarmachen, dass bis 2040, wo wir klimaneutral sein wollen, nicht mehr viel Zeit ist«, sagt Lederer. Einen kostenlosen Nahverkehr, wie er auf Linke-Wahlplakaten gefordert wird, hält er angesichts der anstehenden großen Investitionen in die Infrastruktur kurzfristig nicht für möglich. »Länder und Kommunen werden nicht beides hinbekommen«, so Lederer.

Der Linke-Spitzenkandidat outet sich als Fan der Straßenbahn. Vom Fahrgefühl sei sie am schönsten, auch weil man etwas von der Stadt sehe. »Sie hat in der Regel auch einen spannenden weiteren Vorzug: Sie hat ihr eigenes Gleisbett und lässt sich verhältnismäßig schnell und kostengünstig planen und bauen«, unterstreicht Lederer.

Die Umsetzung der zahlreichen Neubaustreckenprojekte bei der Tram unter Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) hält Fahrgastvertreter Wieseke jedoch für »katastrophal«. Denn: »Von den vier Strecken ist genau null fertig.« Immerhin ist an der neuen Strecke zwischen Adlershof und Schöneweide am vergangenen Mittwoch die Oberleitung unter Strom gesetzt worden, kommenden Dienstag soll die erste Straßenbahn dort eine Probefahrt absolvieren. Für den Fahrgastbetrieb eröffnet werden soll die Verbindung am 31. Oktober. Ebenfalls vergangene Woche begannen an der Turmstraße in Moabit die Arbeiten für die Gleistrasse der neuen Strecke vom Hauptbahnhof.

»Wenn ich weiß, dass ich nicht genug Planungskapazitäten habe, ist es relativ albern, eine Machbarkeitsuntersuchung in Auftrag zu geben, wo irgendwann 2050 eine U-Bahn fahren kann«, kritisiert Lederer die Prioritätensetzung. »Wir kriegen mit der Arrondierung von bestehenden Strecken der U-Bahn das Verkehrsproblem nicht gelöst. Wir müssen alle Planungs- und Baukapazitäten auf den Ausbau der Straßenbahn legen«, so der Bürgermeisterkandidat.

Aktuell ist für Lederer die Frage: »Wie kriege ich Busse und Straßenbahnen beschleunigt?« Denn eine Straßenbahn im Stau mache dieses Verkehrsmittel unattraktiv. Wieseke hat zuvor darauf verwiesen, dass zum letzten Fahrplanwechsel die Fahrzeiten auf zwölf Straßenbahnlinien verlängert werden mussten.

»Systemrelevante Menschen wohnen zu einem großen Teil in den Großsiedlungen. Zentrale Aufgabe ist es, den Oberflächenverkehr schneller zu machen«, fordert Wieseke. Mehr und schnellere Busse seien bis zur Fertigstellung von Schienenstrecken der sinnvollste Weg, um den Nahverkehr attraktiver zu machen.

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