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  • Gender-Gap im Radsport

Straßenrad-WM: Unter Gläubigen

Die Titelkämpfe treffen in Flandern auf große Begeisterung. Eine gute Gelegenheit, den Gender-Gap zu verringern

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Radsport in Flandern ist etwas Besonderes. Nicht nur, weil in dieser belgischen Region nun mittlerweile schon zum siebten Mal Weltmeisterschaften ausgetragen werden. Sondern auch, weil der Radsport hier ganz tief im Leben verankert ist. »Radsport hat in Flandern den Status einer Religion«, meint etwa Jamie Anderson. Der gebürtige Australier ist bekennender »Gläubiger«, er profitiert sogar von der Anbetung des Rads, weil er ein Radsporthotel in Flandern betreibt. In einer Werbebroschüre des hiesigen Tourismusverbands anlässlich der am Sonnabend beginnenden WM fiel er mit dem Ausspruch auf: »Wenn du in Flandern auf dem Rad unterwegs bist, lächeln dich sogar die Polizisten an.«

Die besondere Beziehung zwischen Flandern und dem Radsport lässt sich auch daran ablesen, dass die Zuschreibung, ein »Flame« zu sein, einst eine Ehrenbezeichnung war: für die jeden Entbehrungen standhaltenden Rundenjäger der Sechs-Tage-Rennen. Später galt sie den härtesten Klassikerjägern. Seit 2003 gibt es sogar die offizielle Ehrung »Flame des Jahres«. 2008 kam die »Flämin des Jahres« hinzu. Der Preis wird von der im Radsport einflussreichen Tageszeitung »Het Nieuwsblad« herausgegeben. Kerle wie Tom Boonen, aber auch Ausländer wie der Slowake Peter Sagan, der Brite Chris Froome und der Franzose Julian Alaphilippe sind mittlerweile Ehrenflamen. Bei den Frauen räumten bislang ausschließlich Belgierinnen den Titel ab, zuletzt Lotte Kopecky, mehrfache Landesmeisterin auf der Straße, ehemalige Bahnweltmeisterin und auch Kapitänin der aktuellen WM-Auswahl.

»In Belgien atmet man förmlich Radsport. Deshalb ist es toll für mich, dass ich mein Land bei einem Rennen in der Heimat repräsentieren kann, dessen Kurs mir auch sehr gut liegt«, meinte die 25-Jährige vorab. Sie gestand aber auch, gehörigen Respekt vor dem Erwartungsdruck ihrer Landsleute zu haben. »Der Druck kommt von Leuten, die es gut mit mir meinen. Aber das ist nicht immer hilfreich. Ich versuche, das zu ignorieren und einfach meine Fähigkeiten am besten auszuschöpfen«, sagte sie.

Wesentlich befreiter können die deutschen Frauen in die Wettkämpfe gehen. Sie müssen zwar angesichts der aktuellen schwächeren Phase der männlichen Profis für den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) vermutlich die Kastanien aus dem Feuer holen. Aber was ist der BDR schon im Vergleich zu Flandern, wo gefühlt jeder der etwa 6,6 Millionen Einwohner selbst ein Radsportexperte ist und sich im Besitz der Zauberformel wähnt, die weltmeisterlichen Regenbogentrikots en masse holen zu können.

Nach ihrer sensationellen Goldmedaille im olympischen Teamverfolgungsrennen reisen Lisa Klein, Mieke Kröger und Lisa Brennauer aber mit großem Selbstbewusstsein nach Flandern. Brennauer konnte ihre gute Spätform zuletzt auch mit Platz drei im EM-Zeitfahren bestätigen. »Die Bronzemedaille motiviert natürlich«, meinte sie nun. »Aber die Konkurrenz bei der WM ist noch stärker«, dämpfte sie die Erwartungen vor ihrem ersten Rennen am Montag. Gemeinsam mit Klein und Kröger bildet sie auch das Düsentriebwerk in der Mixed-Staffel am Mittwoch. Jeweils drei Frauen und drei Männer fahren als Team gemeinsam einen Parcours ab, die Addition beider Zeiten ergibt dann den Gesamtsieger. Bei den Europameisterschaften war das Frauentrio allerdings in anderer Besetzung angetreten – nur Kröger war vom olympischen Goldvierer dabei. Dennoch war es das schnellste im gesamten Frauenfeld und verhalf dem deutschen Team so zur Silbermedaille.

Auch im Straßenrennen können sich die Frauen mehr ausrechnen als die Männer. Dort gehört die Truppe um Kapitän Nils Politt bestenfalls zum erweiterten Favoritenkreis. Im Zeitfahren, das an diesem Sonntag die Titelkämpfe eröffnen wird, hat sich Tony Martin zwar wieder in Form gebracht. »Seit meinem vorzeitigen Ausstieg bei der Tour habe ich im Schnitt viermal die Woche auf dem Zeitfahrrad gesessen«, betonte der frühere Weltmeister seine Anstrengungen. Eine Medaille scheint angesichts der grandiosen Spätform von Europameister Stefan Küng aus der Schweiz, der soliden Auftritte von Titelverteidiger Filippo Ganna (Italien) und der gewachsenen Zeitfahrstärke des Belgiers Wout van Aert selbst für einen hochmotivierten alten Radsporthasen wie Martin illusorisch.

So sind auch im Zeitfahren die deutschen Frauen mit den Olympiasiegerinnen Brennauer und Klein besser aufgestellt. Das Straßenrennen am Wochenende darauf liege Brennauer ebenfalls, betonte Bundestrainer André Korff. Bei der Flandernrundfahrt, deren Profil dem WM-Kurs sehr ähnelt, wurde die Allgäuerin in diesem Jahr Zweite hinter der ewigen Dominatorin Annemiek van Vleuten. Die 38-jährige Niederländerin gehört auch in dieser Woche zu den großen Favoritinnen, muss aber auch auf jüngere Kontrahentinnen wie Lokalmatadorin Kopecky oder die starke Dänin Emma Norsgaard aufpassen.

Norsgaard wird von ihren direkten Konkurrentinnen sogar am häufigsten als Favoritin genannt. Die 22-Jährige ist eine Späteinsteigerin. Erst 2018 begann sie ernsthaft mit dem Radsport. In diesem Jahr stieß sie aber in die Weltelite vor. Für gute Gene spricht, dass auch ihr zwei Jahre älterer Bruder Mathias sein Geld als Radprofi verdient. Liiert ist Norsgaard zudem mit Mikkel Bjerg, einem großen dänischen Rundfahrttalent. Die Mixed-Staffel wird für sie mit Lebenspartner Mikkel Bjerg und Bruder Mathias also zu einem halben Familienunternehmen.

Norsgaard fiel im Vorfeld der WM auch durch einige nachdenkliche Bemerkungen auf. Sie sprach über die mentale Belastung, die eine lange Saison mit sich bringe. Und sie bedauerte, dass der Weltverband keine U23-Rennen für Frauen im Programm habe, weder bei den Welttitelkämpfen noch als Rennkategorie in der Saison. »Der Schritt von den Juniorinnen in die Elite ist daher unnötig hart. Es wäre gut, wenn es, wie bei den Männern, eine U23-Kategorie geben würde, die diesen Übergang erleichtert«, sagte sie dem Branchendienst »Cyclingnews«. Die Dänin verwies dabei explizit auf ihren Bruder und ihren Verlobten, die genau diese graduelle Entwicklung durchmachen konnten.
Die Weltmeisterschaften mit Männer- und Frauenrennen an einem Ort zur selben Zeit lenken also erneut die Aufmerksamkeit auf die weiterhin vorhandenen Gender-Unterschiede im Radsport. Es wäre ein Thema auch für den Kongress des Weltverbandes, der während der WM abgehalten wird.

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