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Keine Revolutionsavantgarde
Und wieder ein Historikerstreit: Klaus Gietinger rückt das Bild von Karl Liebknecht als »terroristischem Bolschewisten« gerade
Es ist an der Zeit, Karl Liebknecht wieder aus der Versenkung zu holen. Denn der Mann wird gnadenlos unterschätzt. Kein Linker und keine Linke hat mehr gegen Militarismus, gegen Rüstungskapital und Krieg gekämpft, keiner hat mehr Schützengräben dafür ausheben müssen und keiner hat den Tag der Revolution besser vorausgesehen.
Klaus Gietinger, geboren 1955 in Lindenberg im Allgäu, ist Buchautor, Drehbuchautor, Filmregisseur und Sozialwissenschaftler. Als Regisseur inszenierte er mehrere Kinospielfilme, diverse »Tatorte«, Fernsehfilme, Serien und Dokumentarfilme.
Als Buchautor verfasste zahlreiche historische Sachbücher, z.B. »Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs« und »Kapp-Putsch - Abwehrkämpfe, Rote Ruhrarmee«, dazu zwei Romane: »Unser Weltmeister« und »Karl Marx, die Liebe und das Kapital«.
Erste Vernehmung Karl Liebknechts
Protokoll
Verhandelt
Berlin, den 2. Mai 1916
Festgenommen erscheint und gibt, mit dem Gegenstande seiner Vernehmung bekannt gemacht und zur Wahrheit ermahnt, zu Protokoll:
Zur Person
Ich heiße Karl August Paul Friedrich Liebknecht, bin am 13. August 1871 zu Leipzig, Gemeinde: dto., Kreis: dto., Landesbezirk: dto., Staat: Sachsen, ehelich geboren.
Mein Vater hieß Wilhelm Liebknecht, ist verstorben, meine Mutter hieß Natalie, geb. Reh, ist verstorben.
Ich bin verheiratet mit Sophie, geb. Ryss, wohne in Groß-Lichterfelde, Hortensienstraße 14, bin ortsangehörig in Groß-Lichterfelde, Kreis Teltow, staatsangehörig in Preußen und ernähre mich selbstständig als Rechtsanwalt.
Meine Familie ist deutsch, meine Konfession Dissident.
Ich habe 3 Kinder unter 21 Jahren.
Bestraft bin ich 1907 wegen Hochverrats vom Reichsgericht mit 1 ½ Jahren Festung.
Meine Militärverhältnisse sind folgende:
Ende März 1915 bin ich bei einem Armierungsbataillon in Soldingen eingetreten. Jetzt bin ich Armierungssoldat beim 118. Armierungsbataillon (Ersatz-Kommando in Thorn), z. Z. beurlaubt.
Zur Sache
Die bei mir vorgefundenen Handzettel und Flugblätter [Gemeint sind der Handzettel »Zum 1. Mai« und das Flugblatt »Auf zur Maifeier!«] sind mir bekannt. Ich habe diese Zettel und Flugblätter verbreitet, soweit ich dazu Gelegenheit hatte. Ich gebe auch zu, dass die bei mir vorgefundenen 120 Handzettel und 1340 Flugblätter zur Verbreitung bestimmt waren. Über die Herkunft der Handzettel und Flugblätter verweigere ich die Auskunft. Ob der auf dem Flugblatt verzeichnete Drucker und Verlegervermerk fingiert ist, kann ich nicht angeben. Am Abend des 1. Mai [1916] begab ich mich zum Potsdamer Platz, um mich an der Maidemonstration zu beteiligen. Ich traf dort verschiedene Gesinnungsgenossen, deren Namen anzugeben ich mich aber weigere. Ich gebe zu, am Abend des 1. Mai in der Menge mehrmals »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!« gerufen zu haben. Ich wollte damit meine Überzeugung öffentlich bekunden, dass es Pflicht der Regierung wäre, den Krieg zu beenden, und dass es Aufgabe des Volkes ist, einen entsprechenden Druck auf die Regierung auszuüben. Ich bin nicht der Ansicht, dass ich mich durch ein derartiges öffentliches Auftreten strafbar mache. Ich halte dies vielmehr für meine Pflicht gerade im Interesse der großen Masse des deutschen Volkes wie auch der Bevölkerung sämtlicher anderen kriegführenden Staaten, in denen meine politischen Gesinnungsfreunde in gleichem Sinne tätig sind wie ich in Deutschland.
v. g. u. gez. Karl Liebknecht
g. w. o. gez. Neumann, Kriminalkommissar
Zeuge: Klöber, Krim.-Schutzmann 3695
Aus: GRS, Bd. IX, S. 3 f.
Was bleibt?
Die revisionistische Geschichtsschreibung hat längst den Ersten Weltkrieg erreicht und macht auch nicht halt vor Liebknecht. Dies fängt damit an, dass die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg von den Herrschenden im Wilhelminischen Reich ohne neue Belege auf Serbien, Russland, Frankreich, ja Großbritannien verschoben und die bolschewistische Gefahr durch Spartakus erneut wie schon vor 100 Jahren beschworen wird, sodass sogar eigentlich ernst zu nehmende Historiker wie Martin Sabrow Liebknechts Grab als Geburtsstätte des »Sozialfaschismus« darstellen. Letzteres in einem Buch [Dominik Juhnke/Judith Prokasky/Martin Sabrow: Mythos der Revolution. Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918], das von der Humboldt-Stiftung herausgegeben wird, einer Institution, die im neoabsolutistisch wiederaufgebauten Stadtschloss residiert. Auch ein junger Historiker wie Marc Jones, der die Freikorps-Morde der ersten Regierungen von Weimar unter SPD-Führung als Gründungsmassaker der Weimarer Republik bezeichnet hat, kann die Person Liebknechts nicht richtig fassen. Einerseits behauptet er, Liebknecht habe von den Berliner Arbeitern wenig Unterstützung erfahren, was nachweislich falsch ist. Anderseits schreibt er, Liebknecht sei in die Rolle eines überlebensgroßen nationalen Antihelden hineingewachsen, und vergisst dabei, wie so viele - und daran ist die DDR-Geschichtsschreibung nicht ganz unschuldig -, die Rolle der Obleute. Richtig liegt Jones aber damit, dass Liebknecht zur Hassfigur wurde, weil er den Spartakismus und damit, so glaubten viele, den Bolschewismus verkörperte. Dabei war er weder ein Marxist noch ein brutaler Machtmensch wie Lenin. Er war nicht für Terror, aber er war für die Massen; er war für die Russische Revolution, aber in seinen Schriften kam eine Revolutionsavantgarde für ihn nicht infrage. Wie Luxemburg war er überzeugt, dass die Diktatur des Proletariats nur funktionieren könne, wenn sie die Basisdemokratie der Mehrheit der proletarischen Massen verkörperte. Auch das unterschied ihn von Lenin, der bald die Räte durch eine Kaderpartei ersetzte - was für Liebknecht undenkbar gewesen wäre.
Liebknecht hatte schon als junger Mensch die Bürde eines berühmten Vaters und die der noch berühmteren Taufpaten Marx und Engels zu tragen. Doch es gelang ihm, sich von diesen Übervätern zu emanzipieren, durch sein Studium, durch seine Rechtsanwaltstätigkeit und vor allem durch seinen Einsatz gegen Militarismus, Kapital und Krieg. Dieser Kampf, für den er mehrfach Gefängnis, ja Zuchthaus in Kauf nahm, für den er an die Front geschickt und im Reichstag wie in der bürgerlichen Öffentlichkeit beschimpft wurde, machte ihn wie Rosa Luxemburg zum Liebling der Herzen, der Herzen des Proletariats. Das traf auch auf große Teile der SPD-Basis zu, und zwar auch dann noch, nachdem er aus Fraktion und Partei hinausgeworfen worden war. Liebknechts Tragik bestand darin, dass sein Antimilitarismus schon von Bebel abgelehnt worden war und die Partei nach dessen Tod durch den Rechtsruck, der immer stärkeren Verpreußung, »Verbürgerlichung«, wie Reichskanzler Bethmann Hollweg schon 1907 triumphierend feststellte, den Krieg unterstützte, ja teils sogar hungrig nach Annexionen war.
Als es endlich nach über vier Jahren Massenmord an allen Fronten zur Revolution kam, wurde sie, was Liebknecht vorhergesehen hatte, in Berlin zu spät ausgelöst. Danach liefen er, Luxemburg, Spartakus, die Obleute und auch die USPD ständig einer Entwicklung hinterher, die die »Regierungssozialisten« im Pakt mit den alten Mächten bestimmten. Das lag aber auch daran, dass große Teile der SPD-Basis sich mit einer Nationalversammlung zufriedengaben. Eine Räterepublik war so nicht machbar. Das verkannten Liebknecht wie Luxemburg. Aber hätten sie sich stärker darauf konzentriert, die Räte zu stützen und die Demokratisierung der Armee voranzutreiben, etwa mithilfe der Volksmarinedivision, und versucht, die teils mechanisch reagierenden, teils zögerlichen Obleute wie die unentschlossene USPD, aber auch die streikbereiten Proletarierinnen und Proletarier im ganzen Reich auf ihre Seite zu bringen, ohne gleich das Ganze zu fordern, wären auch große Teile der SPD-Basis ihnen gefolgt. Zumindest demokratische Strukturen in Armee, Verwaltung und teilweise auch in der Wirtschaft wären möglich gewesen. Räte neben dem Parlament. So aber wurden sie von den Militärs, den Bürgerlichen und der SPD-Führung zu Vertretern eines terroristischen Bolschewismus gestempelt, mit dem sie nichts am Hut hatten, was aber als Vorwand diente, sie und ihre Bewegung zu vernichten.
Heute wird Rosa Luxemburg Liebknecht vorgezogen, nicht nur weil sie eine Frau, eine brillante Theoretikerin und eine Kritikerin der »infamsten und größten Halunken« [Rosa Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands] (womit sie die SPD-Führung meinte) war, sondern auch weil sie die Bolschewiki kritisierte. Liebknecht ist ihr in dieser Schärfe nicht gefolgt, was auch daran gelegen haben kann, dass seine Frau eine Russin war und Luxemburg, aus Polen stammend, den autoritären russischen Bestrebungen bei den Bolschewiki sicherlich kritischer gegenüberstehen musste. Dabei war Liebknecht, wie seine Aufzeichnungen zeigen, ebenso wie Luxemburg ein Gegner jeglicher Avantgardepartei, ein Freund der Massen. Eine Diktatur des Proletariats kam für ihn nur infrage, wenn sie wirklich die Demokratie der proletarischen Massen verkörperte. Dass die Massen und Räte auch fehlgeleitet, von alten Traditionen, von Nationalismen und von autoritären Charakteren beherrscht werden konnten, ahnte er angesichts der Tatsache, dass der Militarismus auch in proletarische Schichten eingedrungen war. Das brachte ihn aber ebenso wenig wie der Terror der Bolschewiki davon ab, ausschließlich die Räterepublik zu fordern. Denselben Fehler beging Luxemburg. Interessant ist die Einschätzung Liebknechts durch Luxemburg. Diese nahm ihn wohl gegenüber Mathilde Jacob in Schutz, die Liebknecht nicht mit Luxemburg auf eine Stufe stellen wollte. Sie solle ihn mit den sonstigen Männern in der SPD vergleichen und nicht mit Leo Jogiches. Offensichtlich hielt Luxemburg mehr von ihrem ehemaligen Lebensgefährten.
Meines Erachtens unterschätzten Mathilde Jacob und Luxemburg Liebknecht, auch wenn Luxemburg im selben Gespräch ihre Kritik relativierte: Mathilde solle ihn eher mit Lassalle - einem ihrer Vorbilder - vergleichen, der sei auch eitel gewesen. [Mathilde Jacob: Von Rosa Luxemburg] Und selbst Marx und Engels, obwohl sie auch Lassalle übelst beschimpften, hielten diesen für einen großen Mann.
Und dafür halte auch ich Liebknecht. Keiner engagierte sich stärker gegen den preußischen Militarismus, gegen Krieg und ihn förderndes Kapital. Und das lässt ihn auch heute, wo eine vom Kapital beherrschte Welt mehr für Rüstung ausgibt als je zuvor, als Vorbild erscheinen. Man setze ihn also auf den Sockel am Potsdamer Platz: Nieder mit dem Krieg! Nieder mit dem Feind im eigenen Land!
Klaus Gietinger (Hrsg)
Karl Liebknecht oder: Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung!
Karl Dietz Verlag
200 S., kt., 12,00 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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