- Berlin
- Pflegewohnprojekt
Vielfältig auch im Alter
In einem Pflegewohnprojekt in Neuenhagen vor den Toren Berlins wird Gemeinschaft großgeschrieben, ohne Individualität abzusprechen
Manche Menschen stehen bis zu zehn Jahre lang auf der Warteliste, sagt Alexander Goethe eher beiläufig zu »nd«.
Der junge Mann steht in der brandenburgischen Vormittagssonne vor einem Hügel aus alten Feldsteinen hinter der ausgebauten Scheune des ehemaligen Gutshauses Neuenhagen (Kreis Märkisch-Oderland). Goethe weist auf die Erdgeschosswohnung, die sich über die gesamte Rückseite des Gebäudes zieht und in die bodentiefe Fenster auf der ganzen Länge Licht und Luft in die großräumigen Zimmer lassen: »Hier lebt die WG«, sagt der 24-Jährige, der aussieht, als wäre er gerade selbst erst vom Küchentisch seiner eigenen Wohngemeinschaft aufgestanden, um in die Uni zu fahren.
Aber Goethe, der im nächsten Ort Eggersdorf aufgewachsen ist und tatsächlich auch ein Fernstudium Soziale Arbeit absolviert, leitet trotz seines jungen Alters bereits die Pflegewohneinrichtung mitten im alten Ortskern von Neuenhagen gegenüber von Kirche und Kindergarten. Und er ist schon eine Weile auf den Beinen an diesem Morgen. Seine verantwortungsvolle Position verdankt er auch dem Umstand, dass der Pflegedienst als Familienunternehmen angelegt ist. Goethes Eltern haben die Solis GmbH vor vier Jahren gegründet, Mutter Astrid führt die Geschäfte, Alexander steigt ein, weil er mit seinem Lehramtsstudium unzufrieden ist. Für das, was er hier macht, hingegen »brenne ich«, sagt er lachend. Und winkt mit einem »Guten Morgen« auf den Lippen hinauf zu einem Balkon, auf dem gerade ein älterer Herr erscheint und in den Garten herunterschaut, der im Innenhof wie eine Oase liegt.
Hier blühen nicht nur Spätsommerblumen, es rascheln auch 13 Meerschweinchen in einem eigens für sie gebauten Freigehege. »Die eigentliche Chefetage« sagt Goethe lächelnd - und beliebter Treffpunkt für alle, die hier arbeiten und wohnen. Auch diejenigen, die nicht mehr gut zu Fuß seien, würden es dann doch immer bis zu den Tieren schaffen, meint Goethe, zur besonderen Freude der Physiotherapeut*innen. Neben den Meerschweinchen haben einige Bewohner*innen auch ihre Katzen mitgebracht, es gibt Wellensittiche und drei Schildkröten mit Namen Lisbeth, Jürgen und Joachim. Alexander Goethe muss schon wieder lachen, als er erzählt, dass die beiden Männchen wohl schwul miteinander leben.
Aber dieser Umstand ist hier im alten Gutshof eigentlich für niemanden etwas Besonderes: Vielfalt wird groß geschrieben, sie ist sogar fester Bestandteil des Konzepts.
»Es gibt Klient*innen, die sich als homosexuell outen«, erklärt der junge Mann, der selbst schwul ist, aber darum ginge es ja nicht, sondern darum, dass »jeder sein kann, wie er oder sie möchte«. Viele Vorurteile, meint der junge Mann, seien nach wie vor auf Unwissenheit zurückzuführen. Aber wer nicht zumindest die Offenheit für unterschiedliche Herkünfte sowie Lebens- und Liebesweisen mitbringe, könne hier auch nicht gepflegt werden. Der Hinweis auf die Wartelisten für die zur Verfügung stehenden Plätze zeigt, dass dies kein großes Problem darstellt. Denn die Idee des »Pflegewohnguts« mit dem Anspruch Vielfalt kommt an. Das sah zuletzt auch die Berliner Schwulenberatung so und verlieh der Einrichtung das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt, womit sich Einrichtungen auszeichnen, die sich der bedarfsgerechten Pflege von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* öffnen. Tauchen doch Vorbehalte auf, zum Beispiel gegenüber Pflegekräften, gehe er »ins Gespräch«, sagt Goethe. »Gegenüber Rassismus sind wir nicht kompromissbereit«, stellt er klar.
43 Menschen sind es zur Zeit, die als »Klient*innen«, wie sie genannt werden, auf dem alten Gutshof leben, der aufs Modernste barrierefrei ausgebaut ist - in 35 Wohnungen und eben in einer Wohngemeinschaft. Sechs hochbetagte Menschen, manche mit Demenzerkrankung, manche körperlich schwer eingeschränkt, werden hier rund um die Uhr versorgt von einem oder einer der 49 Mitarbeiter*innen, die in Neuenhagen und an einem zweiten Standort in Altlandsberg als Pflegefachkräfte, Auszubildende oder Schüler*innen in festen Teams tätig sind.
Draußen, vor der ehemaligen Scheune, lehnt an einem extra dafür aufgestellten Gedenkstein ein Bilderrahmen mit dem Foto einer ehemaligen WG-Mitbewohnerin. Sie ist vor einigen Tagen verstorben - wie das eben vorkommt in einer Pflegewohneinrichtung. Hier können die Verbliebenen trauern, so wie sie überall auf dem Außengelände, den Balkonen, im hinteren Garten, in dem es bald auch noch Hühner geben soll, gern und häufig zusammentreffen, davon kann man sich überzeugen. Viele der Bewohner*innen haben sich erst vor Ort kennengelernt, fast alle essen jeden Tag gemeinsam zu Mittag, auch darüber hinaus werde gern gesprochen, Kaffee getrunken und kreativen Angeboten nachgekommen.
»Was die meisten alten Menschen brauchen, sind Gesprächspartner«, sagt Goethe. Manche, die früher im Schichtdienst tätig gewesen seien, hätten noch jetzt, Jahrzehnte später, Schlafstörungen, seien nachts wach und hätten das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Ein Bedürfnis, was den Menschen hier auch erfüllt werde. In der ambulanten Versorgung habe man ebenfalls feste Zeiten für Gespräche eingeplant - nur »Medikamente und Ohrentropfen geben und wieder losfahren, das ist doch keine Pflege«. Viel kosten müsse diese trotzdem nicht, meint Goethe, wenn damit niemand Geld verdienen wolle.
Von den Frauen, die den Großteil der versorgten Menschen in den Solis-Pflegewohneinrichtungen und in der ambulanten Pflege im Umland ausmachen, seien viele Hochbetagte mit den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Viele wollten sich aus verschiedenen Gründen nicht von Männern pflegen lassen, fänden aber im Gespräch mit der Pflegerin, die vor dem Krieg im Mittleren Osten geflohen ist, Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte. »Es entstehen Nähe und Vertrauen, weil es dafür egal ist, ob die Bomben in Polen oder in Syrien gefallen sind«, gibt Goethe die Erfahrungen damaliger und aktueller Geflüchteter wieder.
Natürlich sei die Corona-Pandemie ein Schock gewesen, erinnert sich der junge Leiter. Ihm habe es »das Herz zerrissen«, zu sehen, wie Menschen sich plötzlich nur noch durch die Scheibe anfassen konnten. »Wir haben Ende März letzten Jahres sofort dicht gemacht, eine Schleuse eingebaut.« Die Bilanz: nur ein Coronafall unter allen Bewohner*innen und niemand, der an der Virusinfektion verstorben ist.
Natürlich sei es manchmal stressig, sagt Alexander Goethe, das sei ja normal und es gehe vorbei. Es gebe für ihn als schwul lebenden jungen Mann auch harte Momente, die müsse man aushalten.
»Es ist wirklich schön hier«, meint ein alter Herr, als der Kaffee ausgetrunken ist. »Aber das sehen Sie ja selbst.«
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