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Zerbrochene Hoffnungen
Junge Afghaninnen und Afghanen in Berlin zwischen Trauma und Aktivismus
Am 14. August dieses Jahres hat Aziza noch Hoffnung. Zwischen Hunderten anderen Afghanen steht sie am Brandenburger Tor in Berlin und protestiert gegen die Taliban, die drohen, ihr Heimatland zurückzuerobern. Wenn genug Menschen auf die Straßen gehen, dann halten sich die Politiker vielleicht daran, was sie versprochen haben, denkt sie: dass Kabul frühestens in 90 Tagen fällt. Dass noch Zeit bleibt, um die zu retten, denen die Vergeltung droht.
Doch die Hoffnung zerbricht am nächsten Morgen: Die Taliban rollen schon durch Kabul, als Aziza in Berlin verschlafen auf ihr Handy starrt. »Da habe ich mich gefühlt, als ob ich alles verloren hätte: Mein Land, mein Leben, meine Familie. Solche Gefühle hatte ich nicht einmal, als ich Afghanistan 2017 verlassen habe«, erinnert sie sich einen Monat später. Aziza ist Anfang 20, sie hat gerade ihr Abitur bestanden, einen Rechtsstreit mit den deutschen Migrationsbehörden gewonnen und will Bauingenieurin werden. Sie liebt Mathe und »mag keine Politik«, wie sie sagt, aber die Ereignisse in ihrer Heimatstadt zwingen sie dazu, ständig auf die aktualisierten Nachrichtenseiten zu schauen.
Auch Faissal hat die Berichte genauestens verfolgt: »Jede einzelne Pressekonferenz mit Heiko Maas habe ich mir angesehen«, erzählt er. Doch in den Worten des SPD-Bundesaußenministers findet Faissal keine Anleitung, wie er seine Verwandten aus Afghanistan retten soll. Obwohl seine Onkel und Tanten für internationale Organisationen arbeiteten und einer verfolgten Minderheit angehören, weist man ihn an der Hotline des Auswärtigen Amts zurück: »Solche wie Sie rufen hier die ganze Zeit an«, sagt eine Mitarbeiterin genervt.
Die nächsten Tage verbringt Faissal, der eigentlich als Neurowissenschaftler in einem Start-up in Mitte arbeitet, damit, deutsche Politiker und Botschaften von der Bedrohung seiner Angehörigen zu überzeugen. »Wenn wir die Taliban noch mal erleben müssen, dann könnt ihr uns auch gleich für tot erklären«, tippt seine Tante in den Familien-Chat. Ihrer Generation seien die Neunziger noch sehr präsent, als die religiösen Kämpfer sogar verboten, Musik zu hören, erklärt Faissal. Er selbst wurde 1996 in Deutschland geboren, die Taliban kennt er nur aus den Geschichten seiner Eltern.
Auch Aziza weiß um die Spuren, die das alte Regime vor ihrer Geburt hinterlassen hat: Sie kennt den rechten Arm ihres Vaters, den die Taliban verstümmelten. Nun muss er wieder um sein Leben fürchten, versteckt sich an einem Ort, den Aziza nicht nennen darf. Ein Ort, für dessen Namen die Taliban ihren Bruder gerade halb totgeschlagen haben. »Sein ganzer Körper war blau«, schluchzt sie. Sie hat ihn auf Fotos gesehen. Mit ihrem Handy ist Aziza ganz nah an dem Schrecken, auch Tausende Kilometer entfernt. »Ich fühle mit meinen Leuten, ihre Schmerzen. Aber ich bin hier und kann nichts machen, nur heulen«, sagt sie. »Auch in der Therapie konnten wir manchmal nur noch gemeinsam weinen«, erzählt Janina Meyeringh. Die auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Psychotherapeutin betreut Aziza bei Xenion, einer psychosozialen Beratungsstelle für politisch Verfolgte. Im August brach die Katastrophe von Kabul auch über ihr Therapiezimmer in Kreuzberg herein: »Ich hatte hier junge Afghanen mit suizidalen Krisen sitzen, Klientinnen, die seit Jahren stabil waren und nun zusammenbrachen. Es gab akute Einweisungen in Kliniken«, fasst die Therapeutin die Situation zusammen.
Auch sie stößt damals an ihre Grenzen: »Wie soll man einem Menschen, der schon so viel erleben und verarbeiten musste, immer wieder bestärken, weiterzumachen?«, fragt sie. Aziza gibt an einer anderen Stelle selbst die Antwort: »Wenn man so traurig ist, dann braucht man einfach jemanden, dem man alles erzählen kann.« Janina Meyeringh lächelt: »Zuhören und einen sicheren Raum für Gespräche schaffen ist tatsächlich ein ganz wichtiger Teil unserer Strategie«, bestätigt sie. Seit August gebe es bei Xenion deshalb auch eine offene Gruppe, in der afghanische Jugendliche ihre Erfahrungen austauschen könnten. Der Bedarf sei riesig, das Geld, wie schon seit Jahren, knapp: »Wir haben natürlich ein Akutprogramm aufgestellt und die Berliner Parteien gebeten, uns zu unterstützen. Aber durch die Wahl verschieben sich Entscheidungen, Zuständigkeiten sind unklar«, erklärt sie. Und so muss Xenion erneut in Vorleistung gehen, die neue Gruppe aus privaten Geldern finanzieren, Therapeutinnen für die Spendenakquise freistellen und belastete Jugendliche auf Wartelisten vertrösten.
Auch das Landesaufnahmeprogramm für afghanische Geflüchtete, das der Berliner Senat Mitte August ankündigte, lässt auf sich warten. »Weder wurde die Aufnahmeregelung für Geflüchtete mit in Berlin lebenden Verwandten um Afghaninnen und Afghanen erweitert, noch wurde dem Bundesministerium des Innern eine Landesaufnahmeanordnung vorgelegt«, kritisieren Xenion und Dutzende Verbände nun öffentlich.
»Wir müssen uns jetzt vor allem auf uns selbst verlassen«, sagt Faissal. Uns, damit meint er die afghanische Community und ihre Verbündeten, Anwälte, die lange Listen mit Visamöglichkeiten online stellen, Geflüchtete, die Petitionen teilen. Auch Janina Meyeringh berichtet vom großen Zusammenhalt der Afghanen in Berlin: »In unserer Gruppentherapie sitzen Paschtunen, Tadschiken und Belutschen, aber sie alle teilen die Angst um ihre Familien.« Im deutschen Diskurs allerdings bekäme man das Gefühl, die Sache sei mit dem Abzug der eigenen Soldaten abgehakt, klagt Faissal.
»Afghanistan wird vergessen, wie es vor 2000 der Fall war«, findet auch Aziza. Kaum einer interessiere sich für die Grausamkeiten, die nach dem Fall Kabuls geschehen. »Die Proteste der Frauen haben die Taliban brutal niedergeschlagen, und ihre Regierung besteht nur aus Mullahs und Terroristen«, kritisiert sie. »Wie können die Politiker behaupten, die Taliban hätten sich verändert?«
Weil sie von der deutschen Politik nicht mehr viel erwarten, sind Aziza und Faissal selbst aktiv geworden: Aziza organisiert sich mit anderen afghanischen Jugendlichen, spricht auf Demonstrationen und politischen Veranstaltungen. Faissal gibt ununterbrochen Interviews. Sie fordert eine bessere psychosoziale Betreuung der Afghanen in Berlin, er gesicherte Ausreisemöglichkeiten aus Afghanistan über Land und Luft. Beide wollen die Menschen retten, die ihre Heimat ohne Taliban aufgebaut haben: gemeinsam mit den ausländischen Soldaten, aber auch mit ihren eigenen Institutionen, mit der einstigen Regierung, der Nachbarschaft. Beide gehen dafür in Berlin auf die Straße. Aziza und Faissal haben Afghanistan nicht vergessen - sie können es auch gar nicht.
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