- Kommentare
- Afghanistan
Ernüchternde Lage
Daniel Lücking stellt der Rede des Bundespräsidenten die aktuelle Lage in Afghanistan gegenüber.
Beim Abzug aus Afghanistan ist es ein bisschen so, als zündete man ein Haus an und stelle nach dem lodernden Inferno in den rauchenden Trümmern überrascht fest, dass das Haus nicht mehr da ist.
Der zur Vollversammlung der Vereinten Nationen in der vergangenen Woche veröffentlichte Bericht von Menschenrechtsorganisationen zur Lage in Afghanistan zeigt das Haus quasi im Vollbrand. Stück für Stück setzen die Taliban fort, was sie schon in den 1990er-Jahren in Afghanistan praktizierten. Manches wird noch ein wenig dauern, weil die Weltöffentlichkeit noch zu sehr auf Afghanistan schaut, aber Frauenrechte mit Füßen treten, unliebsame Journalist*innen foltern sowie verhasste Volksgruppen vertreiben das geht schon wieder in altbekannter Manier.
Salbungsvolle Worte fand Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor den Vereinten Nationen, der auf seinem Weg durch bedeutende bundesdeutsche Ämter irgendwie nicht zur Umsetzung der »Idee« von Demokratie und Freiheit gekommen zu sein scheint. Diese Idee will er nun aber hoffnungsvoll Afghanistan hinterlassen haben. Das Scheitern des »langen und opferreichen Engagements« hat Steinmeier immerhin acht Jahre aus der Position des Außenministers heraus begleitet. Dass mehr oder andere Diplomatie nötig sein könnte, zählte später dann aber nicht zu den mahnenden Worten, die ein Bundespräsident durchaus hätte äußern dürfen.
»Wir müssen ehrlicher, klüger, aber auch stärker werden«, meint Steinmeier. Dass in der Praxis dann aber eher am »stärker« in Form von neuen Bündnissen und mehr Rüstung gearbeitet wird als an »ehrlicher« und »klüger«, ist zu befürchten. Steinmeier will vor »Bedrohung« und »Angriff« schützen und bekämpft letztlich so nur das Feuer, das die Außenpolitik selbst legt. Echter Brandschutz würde bedeuten, die Fluchtgründe derer zu betrachten, die nach Europa drängen, statt diese Menschen an den EU-Außengrenzen abzuweisen. Längst flüchten diese Menschen immer mehr vor dem Klimawandel, der in den Herkunftsländern schon jetzt keine stabile Wirtschaft ermöglicht, und natürlich auch vor den Milizen und Kriegsherren, die wir mit Waffen und Geld ausstatten mal mehr, mal weniger offen eingestanden.
Ideen, wie damit umgegangen werden kann, äußert der Bundespräsident erst einmal nicht, glaubt aber optimistisch mehr an die Strahlkraft von »Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen« denn an die endliche Feuerkraft der mächtigsten Armeen. Da gerät die Werbung Steinmeiers, die Welt könne auch nach der Wahl von »deutscher Verlässlichkeit« ausgehen, zur Farce. Ideen und in Aussicht gestellte Verlässlichkeit nützen den Menschen in Afghanistan leider nur wenig, denn die sind derzeit vor allem mit der Endlichkeit konfrontiert, blicken auf die Feuerkraft der Taliban und können selbst strahlendste Werte nur so lange vertreten, bis Kugeln fliegen und Peitschenhiebe einschlagen.
In Herat lebten die Taliban an diesem Wochenende ihre »Idee« von Afghanistan aus und fuhren die Leichen mehrerer angeblicher Entführer, in Ketten eingewickelt und an Kränen aufgehängt, durch die Straßen der Stadt. Die Machtdemonstration an zentralen Plätzen der Stadt knüpft nahtlos an die 1990er-Jahre an.
Ernüchternde Zahlen kommen auch vom UN-Flüchtlingshilfswerk, das die Versorgung der Bevölkerung in Afghanistan im kommenden Winter für nicht gewährleistet ansieht. Schon jetzt drohe eine »unmittelbare Hungersnot«, ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Ideen funktionieren für diese sehr konkreten Lebensbedrohungen leider nicht.
Es ist ein schwacher Trost, dass sich die fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates einig sind, »ein friedliches und stabiles Afghanistan, in dem humanitäre Hilfe ohne Probleme und ohne Diskriminierung verteilt werden kann«, zu wollen und auch die Frauenrechte hochhalten. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bezeichnete die Ankündigung einer nicht-inklusiven Regierung, also einer Regierung ohne Frauen, als taktischen Fehler der Taliban. »Diese Entscheidung wird es für uns schwieriger machen, mit ihnen Kontakt zu unterhalten«, sagte er weiter. Wie sehr die Äußerungen die Taliban trafen, ist bislang nicht bekannt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.