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»Nichts weniger als eine Schande«
Ein breites Bündnis fordert die nächste Bundesregierung zum Kampf gegen die Kinderarmut auf
Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Betroffen sind laut einem Bericht der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2020 rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Die Coronakrise dürfte inzwischen sogar eher zu noch mehr Armut unter Minderjährigen geführt haben. Generell steigt diese aber schon seit Längerem Jahr für Jahr an. Während laut Statistischem Bundesamt 2014 19 Prozent der Kinder in Deutschland von Armut bedroht waren, waren es im Jahr 2019 bereits 20,5 Prozent. Laut Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind Minderjährige im Vergleich zu anderen Altersgruppen deutlich häufiger von Armut betroffen als die Gesamtbevölkerung. Und ist ein Kind erst einmal arm, so meist nicht nur vorübergehend, sondern für lange Zeit. Zwei Drittel leben mindestens fünf Jahre durchgehend oder wiederkehrend in Armut.
Offensichtlich wurde von der Bundesregierung komplett versäumt, politisch gegen den Anstieg der Kinderarmut gegenzusteuern oder diese gar zu bekämpfen. So kam im Juli dieses Jahres auch eine Studie des Paritätischen Gesamtverbandes zu dem Ergebnis, dass die familienpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahre nicht ausreichend waren, um Familien und Kinder effektiv vor Armut zu schützen.
So forderte ein breites Bündnis aus 61 Verbänden, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Einzelpersonen die nächste Bundesregierung am Dienstag in einer gemeinsamen Erklärung dazu auf, Kinderarmut »endlich effektiv zu bekämpfen«. Die unterzeichnenden Organisationen des »Ratschlags Kinderarmut«, unter anderem das Deutsche Kinderhilfswerk, die Nationale Armutskonferenz, der Sozialverband Deutschland (SoVD), der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Diakonie, fordern, die Armut von Kindern und Jugendlichen nicht länger hinzunehmen und entschlossene Maßnahmen im Koalitionsvertrag zu verankern. Sie müsse als strukturelles Problem begriffen, kommuniziert und behandelt werden. »Arme Familien haben nicht selbst Schuld an ihrer Lage, sondern ihre Situation ist die Folge von gesellschaftlichem Ausschluss«, so die Organisationen in ihrer Erklärung.
»Um das strukturelle Problem der Kinderarmut zu lösen, brauchen wir eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung, die den bestehenden Familienlastenausgleich ablöst«, erklärt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks am Dienstag. Bestehende kindbezogene Leistungen müssten transparent gebündelt und das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern bedarfsgerecht gewährleistet werden. »Und zwar unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie, der Familienform und dem bisherigen Unterstützungssystem«, so Hofmann.
SoVD-Präsident Adolf Bauer betont am Dienstag die Dringlichkeit der Forderungen: »Wenn wir wissen, dass nach aktuellen Zahlen in Deutschland etwa 2,8 Millionen Kinder in Armut aufwachsen, muss auch der Letzte verstanden haben, dass es Zeit ist zu handeln.« Das Bündnis fordert neben einer grundlegenden Reform der Leistungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien auch ihre umfassende Beteiligung sowie die Sicherstellung sozialer Infrastruktur. Bund, Länder und Kommunen müssten ein Gesamtkonzept vorlegen, wie kommunale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche bedarfsgerecht gestaltet und finanziert werden könne.
Dazu gehörten etwa bezahlbare Wohnungen, armutssensible Angebote der Bildung und Betreuung, eine bedarfsorientierte Jugendhilfeplanung, die Absicherung von Mobilität und eine gute gesundheitliche Versorgung. »Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation für viele Kinder – insbesondere aus einkommensarmen Familien – noch einmal verschärft«, erklärt Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Kinder und Jugendliche bräuchten daher über das Corona-Aufholprogramm hinaus Begleitung in ihrem Kita- und Schulalltag sowie psychosoziale Unterstützung, um die Auswirkungen der Pandemie zu bewältigen.
In Armut aufzuwachsen kann vielfältige negative Auswirkungen haben. Nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe ist eingeschränkt. Es gibt allgemein weniger Gestaltungsmöglichkeiten und Entfaltungsspielräume für die Kinder und Jugendlichen, auch ihre Bildungschancen sind verringert.
Vor allem für Familien, die lange in Armut leben, wird die finanzielle Belastung nicht selten zur psychischen. Die ausweglose Lage und die damit einhergehenden Anforderungen an die Eltern kann dazu führen, dass das familiäre Zusammenleben stark leidet. Darüber hinaus sind in Armut lebende Minderjährige auch häufiger gesundheitlich benachteiligt.
»In den Koalitionsverhandlungen müssen existenzsichernde Leistungen für Kinder endlich eine zentrale Rolle spielen. Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf gleichwertige Lebensverhältnisse und ein gutes Aufwachsen«, fasst Loheide von der Diakonie die Bündnisforderungen zusammen. Hofmann vom Kinderhilfswerk resümiert: »Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen, für eine der reichsten Industrienationen der Welt ist das nichts weniger als eine Schande.«
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