Der Höllenschlund

Vor 80 Jahren begannen Massenerschießungen von Juden in der Nähe von Kiew. Das Erinnern an die Gräuel fällt bis heute schwer

  • Johanna Bussemer
  • Lesedauer: 8 Min.

Als ich an einem kalten Novembertag im Jahr 2016 Babyn Jar besuchte und der Schrecken des Massakers in unsere Glieder kroch, hatte ich nur eine vage Vorstellung von dem Mann, der mein Großvater ist. In der Familie hieß es stets: Er war gläubiger Christ, Kirchenarchitekt, in vielerlei Hinsicht künstlerisch begabt, eben einfacher Wehrmachtssoldat, gefallen im Juli 1942, neun Monate nach der Geburt meiner Mutter, in Stary Oskol (heute Russland). Es erinnert nicht viel an ihn: in meinem Flur ein von ihm gemaltes Ölbild. Eine Kirche natürlich, ein See, Berge. Irgendwo in Norditalien vermutlich. Dazu eine Fotografie in der Wohnung meiner Mutter: ein junger Mann, mir ähnelnd, in Uniform. Mehr nicht.

Später, diesmal im Osten der Ukraine, nahe der Konfliktlinie im Donbass, kam er mir wieder ins Bewusstsein. Ich passierte Orte, die mir bekannt vorkamen, obwohl ich nie zuvor dort war. Er war hier gewesen. Jemand musste mir mehr erzählt haben von ihm. Vielleicht seine Frau, meine Großmutter. Die Stadt hieß Bachmut, und ich hatte in der Vorbereitung der Reise gelesen, dass die vorrückenden deutschen Truppen und SS-Bataillone die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt in einen Stollen eingemauert hatten. Zwei Jahre später fand die Rote Armee ihre Leichen. Aufgrund der klimatischen Bedingungen wirkten sie wie konserviert. Unser Versuch, den Stollen zu besuchen, scheiterte. Dort werde jetzt Krimsekt gelagert, hieß es.

Erschießen im Schichtbetrieb

Am 29. und 30. September 1941 ermordete ein Sonderkommando der deutschen Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes mit Unterstützung von Polizei-Bataillonen und Wehrmacht in Babyn Jar fast 34 000 Menschen, weil sie Jüdinnen und Juden waren. Die Erschießungen gelten heute als das größte Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs. Es steht exemplarisch für den deutschen Vernichtungskrieg in der damaligen Sowjetunion und ist trotzdem nur das extremste Beispiel zahlreicher ähnlicher Kriegsverbrechen auf dem heutigen Gebiet der Ukraine.

Damals lag die Schlucht mit ihren weitverzweigten Nebenarmen noch am Rande von Kiew. Mithilfe von Aufrufen, die eine Umsiedlung der jüdischen Bevölkerung vortäuschten, wurden die Menschen, darunter viele Alte, Frauen und Kinder, an den Stadtrand geführt und systematisch in einem penibel geplanten Schichtbetrieb innerhalb von zwei Tagen exekutiert. Kiewer*innen denunzierten Jüdinnen und Juden oder bereicherten sich am Hab und Gut der Ermordeten. Auch ukrainische Kollaborateure waren am Massaker beteiligt, gerade in der frühen Besatzungsphase verbündeten sie sich mit den Besatzern in der Hoffnung, auf diesem Wege die ukrainische Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erlangen.

Im Laufe der deutschen Besatzung, die ziemlich genau zwei Jahre andauerte, wurde die Schlucht immer wieder für Erschießungen und das Verscharren von Ermordeten genutzt. Um effektiver zu töten, entstand am Rande der Schlucht ein Konzentrationslager. Zehntausende Häftlinge, darunter auch Rom*nja und 2000 sowjetische Kriegsgefangene, wurden in regelmäßigen Mordaktionen in der Schlucht hingerichtet. Der Historiker Bert Hoppe beziffert die Zahl auf insgesamt etwa 65 000 Opfer.

Und dies ist nur ein Bruchteil der Morde, die Deutsche auf dem jetzigen Gebiet der Ukraine verübten, insgesamt wurden um die 900 000 Menschen umgebracht. Der Großvater bemerkt in seinen langen Ausführungen über Landschaft, Leute und Versorgung der Kompanie nur lakonisch: »Juden gab es hier früher auch ziemlich viele. Jetzt sind alle weg.«

Trotz der Gräuel gab es nach dem Krieg zunächst keine Aufarbeitung dieser Taten. Den Callsen-Prozess, benannt nach dem Hauptangeklagten, dem ehemaligen SS-Hauptstammführer Kuno Callsen, trieb maßgeblich der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vor dem Darmstädter Landgericht in den 1960er Jahren voran. Er fand nur wenig Aufmerksamkeit in der jungen Bundesrepublik, obwohl die Aussagen von Dina Proničeva, der einzigen bekannten Überlebenden, bewegend sind. Vor dem Gericht beschreibt sie unter anderem, wie sie ihrer Erschießung vorgriff, indem sie auf einen Berg Leichen sprang. »Nach einiger Zeit - ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war - kamen Deutsche nach unten. Es waren zwei Offiziere und zwei Polizisten. Sie gaben Fangschüsse auf diejenigen ab, die noch lebten. Man hörte solches Stöhnen, dass einem die Haare zu Berge standen. Als ich auf die Leichen fiel, wurde ich mit Blut übergossen; das Blut drang sogar in meinen Mund ein, und ich musste erbrechen.«

Auch in der DDR, wo es immerhin einige Prozesse zu den deutschen Kriegsverbrechen in der Ukraine gab, fand keine juristische Aufarbeitung von Babyn Jar statt. Viele der Täter, die während des Krieges bei der Polizei gearbeitet hatten, kehrten danach auf ihre Dienststellen in Ost und West zurück.

Der Name Babyn Jar ist im west- und dann gesamtdeutschen Holocaustgedenken bis heute wenig geläufig. Als das Hamburger Institut für Sozialforschung Mitte der 1990er Jahre versuchte, das Massaker von Babyn Jar in die Wehrmachtsausstellung einzubeziehen, löste dies heftige Widersprüche aus. Erst jetzt sind die Massenerschießungen auf dem heutigen Gebiet der Ukraine Bestandteil der Forschung und Teil des Gedenkens geworden. Dennoch ist es im öffentlichen Bewusstsein weniger verankert als die industrielle Ermordung in den Konzentrationslagern.

Umkämpftes Erinnern

Auch in der Sowjetunion gab es unmittelbar nach dem Krieg keine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Manfred Sapper und Volker Weichsel, die dem 80. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar einen Band der Zeitschrift »Osteuropa« gewidmet haben, sehen als Grund den Antisemitismus in den spätstalinistischen Jahren. Des Weiteren führen sie aus, dass sich hinter dem seit Ende der 1920er Jahre in der Sowjetunion durchgesetzten Internationalismus ein russischer Nationalismus verberge, bei dem Helden im Mittelpunkt standen. »Die Erwähnung nationaler Opfergruppen war ideologisch nicht erwünscht. Ohnehin zielte die Erinnerungspolitik auf den Sieg im Krieg, die Menschen sollten sich an Helden erinnern, nicht an Opfer«, so Sapper und Weichsel.

Ab den 1960er Jahren erinnerten jüdische und ukrainische Gruppen gemeinsam mit kleinen Gedenkveranstaltungen an die Massaker. Diese Kundgebungen wurden im Laufe der Jahre zu einem identitätsstiftenden Moment, da Dissident*innen aus dem jüdischen und ukrainischen Milieu erstmals zusammenarbeiteten. Die Kundgebungen wurden von der sowjetischen Staatsmacht deswegen genauestens überwacht. Zwischen 1966 und 1975 entstanden erste Gedenksteine und das große sowjetische Denkmal. Mit diesen Orten wurde offiziell jedoch nur an Bürger*innen Kiews beziehungsweise der Sowjetunion erinnert.

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine entwickelte sich die Erinnerungskultur im Land weiter, dies geschah jedoch vor dem Hintergrund des Ringens um neue nationale Erzählungen. Die außenpolitische Orientierung des Landes in Richtung der EU oder Russlands ist seit Jahren im Land umstritten, was sich auch in der Geschichtspolitik spiegelt. Zwei Momente prägen die Erinnerungskultur heute: Im Zuge der Erweiterung der EU wurde das Erinnern an den Holocaust in vielen osteuropäischen Ländern als eine Art »Eintrittskarte in die EU« gefordert, wie es der ukrainische Historiker Vladyslav Hrynevyč beschreibt. Gleichzeitig ist das sowjetisch geprägte Erinnern an die Helden des Krieges weiterhin virulent. In der Ukraine ist eine Mischform beider Erinnerungskulturen entstanden, zuletzt ist aber durch den Russland-Ukraine-Konflikt eine stärkere Polarisierung zu beobachten, der auch in der Geschichtspolitik ausgetragen wird.

Heute ist Babyn Jar ein zerklüftetes Gelände in Kiew. Teile der Schlucht werden als Sportfeld genutzt, an anderer Stelle steht ein Fernsehturm. Umgeben ist das Areal von einem Wohngebiet; Leute gehen am Denkmal spazieren, die Gräuel scheinen lange her zu sein. Aber Spuren davon tauchen immer wieder auf, so stieß man beim Bau der Metro auf etliche menschliche Knochen.

Seit 2010 hat Babyn Jar zwar den Status einer nationalen Gedenkstätte, trotz vieler ambitionierter Planungen gibt es aber bis heute keine einheitliche Gedenkstätte. Einzelne Skulpturen und Gedenkorte erinnern an die unterschiedlichen Opfergruppen. Manfred Sapper und Volker Weichsel sehen in dieser Sammlung von Gedenkorten eine Konkurrenz, in der die jeweiligen Opfergruppen stehen.

Das Erinnern an das Massaker von Babyn Jar ist auch in der Ukraine weiterhin umstritten. Seit Längerem wird von verschiedenen Seiten versucht, für die Ereignisse ein Dokumentationszentrum zu eröffnen. Nachdem es 2016 kurz den Anschein gab, als könnte dies gelingen - es lagen drei unterschiedliche Konzepte zur Schaffung eines solchen Ortes auf dem Tisch - herrscht aktuell wieder Stillstand. Denn auch hier zeigten sich wieder die verschiedenen Ansätze der ukrainischen staatlichen Institutionen, vor allem jüdisch geprägter Nichtregierungsorganisationen, die entweder das Erinnern an die Opfer oder die Geschichte der Ukraine in den Mittelpunkt stellen wollten. Der Versuch, diesen Ansätzen eine dritte Idee entgegenzustellen, bei der die Taten von Babyn Jar erfahrbar gemacht werden, indem die Besucher*innen des Geländes in Täter- und Opferrollen schlüpfen können, wurde wegen großer Bedenken ebenfalls abgelehnt. Auch hier überschattet der Russland-Ukraine-Konflikt das Gedenken so sehr, dass eine gemeinsame Lösung, auch mit russischen Akteuren, derzeit undenkbar scheint.

Schweigen und Verdrängen

Nach einer weiteren Ukrainereise im Sommer 2019 fragten mein Cousin und ich nach den Tagebüchern des Großvaters in der Familie. Eine entfernte Tante schickte uns die Scans einer Abschrift, die meine Großmutter angefertigt haben soll, bevor sie die Originale vernichtete. Beim Lesen der Tagebücher wurde deutlich: Er war kein einfacher Wehrmachtssoldat, sondern ist im Frühling 1942 als Oberleutnant und Kompaniechef in die Ukraine einmarschiert. Am Massaker von Babyn Jar im September 1941 war er also nicht beteiligt, er kam schlicht zu spät. Aber er schrieb freimütig von Gegenden des Landes, durch die sie marschierten und in denen es nur noch wenige Jüdinnen und Juden gebe, weil bereits »aufgeräumt« wurde. Nichts gewusst und mitbekommen zu haben ist angesichts des massenhaften Mordens unmöglich.

Auch der Großvater wird gemordet oder es zumindest angeordnet haben. Aber das Schweigen darüber gab es auch in meiner sonst so aufgeklärten, weltoffenen, internationalen und teilweise jüdischen Familie.

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