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Rebellion und Empathie
Die Linke-Abgeordnete Katalin Gennburg empfiehlt ihrer Partei Mut zur Radikalität
Wie war Ihr Wahlabend? Immerhin konnten Sie Ihren Direktwahlkreis mit fast unverändertem Ergebnis halten.
Er war geprägt von gemischten Gefühlen. Einerseits der katastrophale Absturz im Bund, auch die alten Berliner Hochburgen sind weggebrochen. Andererseits gab es sensationelle Gewinne in unserem Wahlkreis 1 in Treptow-Köpenick, aber auch beispielsweise für die Neuköllner Direktkandidatin Jorinde Schulz, die nur knapp den Grünen unterlag. Das Wahlergebnis ist die Ansage, dass nichts beim Alten bleibt. Viel zu lange wurde über die wegsterbende Mitgliedschaft gesprochen und zu wenig über neue Potenziale. Ich wünsche mir, dass wir uns jetzt die Erfolge anschauen und uns die Zeit zum Nachdenken und neu sortieren nehmen, die es braucht.
Katalin Gennburg ist 1984 geboren. Die Parlamentslaufbahn der Stadtentwicklungsexpertin begann 2002 in der Stadtverordnetenversammlung von Falkensee. Seit 2016 gehört die Linke-Politikerin dem Abgeordnetenhaus an. Bis 2021 war sie Mitglied des Linke-Bundesvorstands. Über ihre politische Strategie sprach Nicolas Šustr mit ihr.
Auch Ihr Wahlkreis im Norden Treptows war eine klassische Linke-Hochburg, die 2006 weggebrochen ist. 2016 haben Sie ihn zurückgeholt. Was war das Rezept?
Der Wahlkreis galt 2015 als nicht mehr gewinnbar. Dass es doch gelang, lag schon 2016 an einer klaren Politik und einer sehr rebellischen Ansprache. Nun haben wir bei insgesamt gestiegener Wahlbeteiligung unser relatives Ergebnis halten und in absoluten Zahlen sogar 1163 Stimmen hinzugewonnen. Das bestätigt unseren Kurs: Erstens haben wir uns in den letzten fünf Jahren systematisch um den Parteiaufbau gekümmert. Zweitens habe ich als Abgeordnete mich in der Zeit sehr intensiv um den Wahlkreis gekümmert - mit vielen Vor-Ort-Terminen und als treibende Kraft in lokalen Fragen agiert, etwa beim Spreepark oder der A100. Drittens habe ich in meiner Rolle als Parlamentarierin versucht, an der Seite der Menschen gegen eine vermeintliche Alternativlosigkeit zu streiten, habe Proteste unterstützt und mich immer wieder gegen die eine oder andere Regierungsvorlage gestellt. Und viertens war das einfach ein wirklich harter Wahlkampf, der sehr systematisch geplant war und in dem viele Menschen, Parteimitglieder und Nicht-Parteimitglieder, mitgewirkt haben. Das schafft niemand allein, linke Politik ist immer ein kollektives Projekt.
Werfen Sie der Berliner Linke einen zu zahmen Kurs vor?
Sagen wir mal, bei dem einen oder anderen ist noch etwas Luft nach oben. Wir hatten schon vor Corona eine radikalisierte Gesellschaft - nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland. Das hat sich auch in Protest- und Nichtwählern niedergeschlagen. Diese radikalisierte Grundstimmung ist nach Corona noch einmal stärker geworden, die Gesellschaft ist noch mehr auseinandergebrochen. Es braucht klare Botschaften und eine klare Zielmarke und die heißt gesellschaftliche Umverteilung. Deswegen haben 56 Prozent für die Enteignung gestimmt und dementsprechend muss die Linke sich jetzt auch sehr klar dafür aussprechen, die Systemfrage zu stellen und das auch in ganz konkreten, lokalen Konflikten übersetzen und sichtbar machen.
In der Mietenfrage scheint die Linke relativ klar zu sein, bei Klimafrage und Verkehrswende nicht ganz so. Oder täuscht der Eindruck?
Nein. Bei der Mietenbewegung war es auch ein harter Weg in den letzten Jahren, zu sagen: Wir sind die Bündnispartner im Parlament. Es ist immer wieder ein hartes Ringen darum, dass wir in der Regierung auch wirklich mit der Bewegung arbeiten und deren Forderungen umsetzen. Auch bei Deutsche Wohnen & Co enteignen gab es in unseren Reihen am Anfang Zweifler. Die werden jetzt sicherlich ruhig sein, weil sie froh sind, dass dieses Volksbegehren uns wenigstens Richtung 15 Prozent mitgetragen hat.
Wie steht es mit der Klimabewegung?
Bei der Klimabewegung haben wir diesen langjährigen Vorlauf noch nicht, aber die Fragen stellen sich deutlich radikaler. Ich glaube wir kommen dabei nicht weiter, wenn wir uns Diskussionen über unsere Wählerschaft entlang von Konsumentscheidungen bezüglich ihrer Kaffeegetränkevorlieben, ihrem Verkehrsmittel oder ihren Sprachgewohnheiten aufdrücken lassen. Es bringt überhaupt nichts, diese Menschen gegeneinander ausspielen zu wollen. Die Kunst besteht ja gerade darin, für sie eine gemeinsame Politik zu formulieren, die auch ihre Herzen berührt. Und dann hat Die Linke insgesamt einiges an klassenpolitischen Diskursen der Jetztzeit zu bearbeiten. Etwa: Was heißt eigentlich digitaler Kapitalismus, wie funktioniert kapitalistische Landnahme im digitalen Zeitalter und welche neuen Formen der Ausbeutung erleben wir? Das in konkrete, linke Praxis zu übersetzen, darum muss es gehen. Es verbietet sich auch eine Debatte über Vorwürfe, dass das nur urbane Themen wären, denn der Kapitalismus bildet sich eben in einem Stadt-Land-Widerspruch ab und urbane Problemlagen sind das Gegenüber ländlicher Akkumulationsregime. So gesehen kann eine starke urbane Linke auch solidarisch mit dem Land sein.
Kommen wir noch mal zurück zum Wahlkampf. Wie lief der konkret?
Es war ein aktivierender Wahlkampf in einem offenen Wahlkampfteam. Wir haben jede vierte Tür im Wahlkreis aufgesucht, haben in praktisch jeden Briefkasten im Wahlkreis einen Brief eingeworfen, und zwar von Hand eingetütet und zu Fuß ausgetragen, mit einer Riesengruppe von Aktiven, die in fünf Jahren harter Arbeit hier als Gruppe aufgebaut wurden - lange vor dem Wahlkampf. Wir haben konkrete Bildungsarbeit mit lokalen Initiativen in Form von Kiezspaziergängen zu Zwangsarbeit hier im Kungerkiez oder zu öffentlichen Toiletten gemacht.
Waren das alles Linke-Mitglieder?
In der heißen Phase kamen im Wochentakt neue Leute in die Gruppe, die uns freiwillig unterstützt haben. Und nein, nicht alle sind Parteimitglieder. Es ist uns gelungen, ein ähnliches Momentum entstehen zu lassen wie bei den Volksentscheiden. Die spannende Frage ist doch, warum machen Leute das? Weil es für sie ein politisches Projekt war, um die Stadt besser zu machen. Die designierte Grazer Bürgermeisterin, KPÖ-Spitzenkandidatin Elke Kahr, hat in einem Interview etwas ganz Wunderbares gesagt, was mich sehr berührt hat und was doch fast banal ist. Sie hat gesagt: Wir müssen empathisch sein und mitmenschlich. Und nach 20 Jahren Parteiarbeit kann ich sagen: So kann es gelingen. Wir müssen uns als Partei öffnen, wir müssen ganz klar ausstrahlen, dass wir Leute gewinnen wollen, dass wir mehr werden wollen.
Wenn Sie so radikal sind: Ist Regierung Mist, oder Opposition?
Ich war immer Reformerin und habe mich bewusst für eine Partei entschieden, in der ich auch Reformpolitik machen kann. Ich habe mich allerdings in den letzten Jahren ziemlich radikalisiert, weil erstens in der Regierung irre Sachzwänge herrschen und es Leute braucht, die diese scheinbare Eigenlogik in Regierungshandeln auch durchbrechen und Fragen stellen, die unbequem sind. Ich habe für mich darin eine gute Position gefunden, die ich auch durchhalten kann. Deswegen kann ich in der Oppositionsrolle genauso leben wie mit einer Regierungsrolle. Aber ich halte viel davon, dass wir uns als Linke erst mal überlegen: Was wollen wir in der Regierung? Die letzte Berliner Regierung war aus meiner Sicht ziemlich erfolgreich. Und mit dem Enteignungs-Volksentscheid haben wir einen erneuten Regierungsauftrag.
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