Kein Entkommen aus Calais

In der nordfranzösischen Stadt sitzen viele Geflüchtete fest, die eigentlich nach Großbritannien weiterreisen wollen

  • Iván Furlan Cano, Calais
  • Lesedauer: 8 Min.

Im Unterholz hinter einem Supermarkt stehen Zelte an einer Mauer, die mit Nato-Draht geschützt ist. Die Menschen, die hier leben, haben blaue Bauplanen zwischen die Bäume gespannt. Am Rande eines Feldwegs steigt Rauch auf. Einige grüßen auf Arabisch, andere auf Englisch oder Französisch.

Seit im Oktober 2016 der sogenannte Dschungel, eine große Zeltstadt, in der nordfranzösischen Küstenstadt Calais geräumt wurde, leben die geflüchteten Menschen in der gesamten Stadt verteilt. Mittlerweile harren nur noch mehrere Hundert Menschen in den improvisierten Lagern aus. Sie müssen ständig Räumungen durch die Polizei befürchten. Offensichtlich sollen die Siedlungen aus dem Stadtbild verschwinden.
In den Squats, wie die Zeltlager von den Bewohner*innen genannt werden, leben vor allem Menschen aus Eritrea, dem Sudan, Äthiopien und dem Iran. Nun sind sie in Calais gestrandet. Die Gründe für ihre Flucht nach Europa sind oft identisch: Sie wollen einen sicheren Status bekommen und ihre Familien nachholen. In Großbritannien, so sagen viele, sei das einfacher als auf dem Festland. Die britische Stadt Dover befindet sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals.

Einer der Geflüchteten heißt Samir*. Der 22-Jährige stammt aus dem Sudan. Er kam im August 2019 nach Europa. »107 Personen waren wir auf dem Boot, als uns die ›Ocean Viking‹ gerettet hat«, erzählt er und zeigt einen Videobeitrag der BBC von dem damaligen Einsatz auf seinem Handy. »Die Person, die hier vorne sitzt, kenne ich«, sagt er. Nach 18 Tagen auf dem Schiff der Organisation SOS Méditerranée ging es für ihn nach Malta und kurze Zeit später nach Deutschland. Zwei Jahre zuvor hatte Samir den Sudan verlassen, weil er dort keine Perspektive mehr sah. Er hatte keine Aussicht auf eine Arbeitsstelle und die Gewalt grassierte.

»Einige haben ihre Eltern und Geschwister inmitten des Krieges und dieser Probleme verloren. Ich auch«, berichtet er. »Mein Bruder wurde getötet. Deshalb möchte ich einen sicheren Ort haben, an dem ich mich niederlassen, ein neues Leben beginnen und studieren kann. Ich möchte mein Leben noch einmal neu beginnen!« Doch sein Asylantrag wurde in Deutschland abgelehnt. Auch der Einspruch dagegen blieb erfolglos. Deshalb beschloss Samir im April, nach Großbritannien zu gehen.

Geflüchtete werden an den Stadtrand gedrängt

Aber er hat keine Papiere und harrt zwei Jahre nach seiner Ankunft in Europa in einem Zelt am Rande eines Feldweges in Calais aus – noch immer auf der Suche nach einem besseren Leben. »Ich bin in einem schlechten Zustand«, sagt er mit Tränen in den Augen. Er scheint bereits ein gebrochener Mann zu sein. Die Ungewissheit setzt ihn psychisch unter Druck, sodass es kaum auszuhalten sei, erzählt Samir.

Calais wurde in den vergangenen Jahren im Kampf gegen Flüchtende hochgerüstet. Eine hohe Polizeipräsenz rund um die Autobahnen, meterhohe Grenzzäune, Kameraüberwachung in der ganzen Stadt und Wärmebildkameras im Hafen machen die Flucht im Lastwagen oder Auto inzwischen nahezu unmöglich. Die Flüchtenden werden an den Stadtrand gedrängt, weit weg von der neu gebauten Strandpromenade, weit weg von der Inszenierung einer heilen Welt im Tourismusort Calais. Aber sie sind trotzdem da.
Viele Gestrandete bauen ihre Zelte tagsüber ab. Zu groß ist die Gefahr, dass die französische Bereitschaftspolizei (CRS) sie zerstört. Wöchentlich werden Lager in Calais und den nahe gelegenen Städten Camps auf Anweisung der französischen Behörden geräumt. Zuletzt rückte die Polizei am 23. September in eine Siedlung ein, wo 800 Menschen lebten. Die Beamten zerschnitten Zelte und Planen. Schlafsäcke, Decken und Kleidung wurden mitgenommen. Um einen Wiederaufbau zu verhindern, wurde der Boden umgegraben. Menschen, die ihre persönlichen Gegenstände retten wollten, wurden von der Polizei daran gehindert.

Samir hat bisher Glück gehabt. Auf seiner Seite des Wegs dürfen die Zelte stehen bleiben. Seines teilt er sich mit einer Person, die er in Libyen kennengelernt hat. Auf der einen Seite ist Nato-Draht mit rasiermesserähnlichen Schneiden gespannt, auf der anderen Seite Gestrüpp. Ein Stück weiter steht das, was die Geflüchteten eine Küche nennen. Es handelt sich um eine mit Planen überspannte Feuerstelle. Lokale Hilfsorganisationen versorgen die Menschen mit dem Nötigsten. Einige kochen, bringen Essen und Tee. Andere verteilen Schuhe und Kleidung oder kommen mit Generatoren vorbei, damit die Menschen ihre Handys aufladen können. Anders als in anderen Grenzregionen der Europäischen Union ist Hilfsarbeit in Calais möglich. Aber auch hier wird vieles daran gesetzt, sie zu erschweren. Anfang September legten die französischen Behörden Felsen auf die Feldwege, um die Zufahrt zu den Camps der Geflüchteten für Hilfsorganisationen zu sperren. Und die Bereitschaftspolizisten der CRS zerschnitten Wassertanks mit Frischwasser.

Die Orte, wo sich die Flüchtenden ihre Behausungen bauen, sind natürlich nicht gemacht, um zu bleiben. Alle wollen so schnell wie möglich weiter nach Großbritannien. Mithilfe von Schleppern versuchen sie, mit einem Boot über den Ärmelkanal zu kommen. Die Kosten dafür sind hoch. Mehrere 1000 Euro verlangen die Schlepper pro Versuch. Dabei sind meistens nicht nur die überfüllten Boote das Gefährliche. Täglich fahren 400 bis 500 Schiffe über den Ärmelkanal. Für die Fähren, Tanker und Containerschiffe sind die kleinen schwarzen Schlauchboote, die meistens ohne Licht aufs offene Meer fahren, oft nur schwer zu sehen.

Überall Grenzzäune und Kameraüberwachung

Mitten in der Nacht liegen die Menschen stundenlang in den Dünen. Man hört keinen Ton. Manchmal wird die Dunkelheit von Lichtkegeln durchbrochen und Polizist*innen suchen mit Taschenlampen den Strand ab. Plötzlich ertönt ein Pfiff aus einem Gebüsch. Kurz darauf treten insgesamt 15 Menschen hintereinander im Schein des Mondes aus den Dünen heraus. Einige tragen ein Schlauchboot über dem Kopf. Eine Person hat einen Außenbordmotor geschultert. Am Ufer angekommen, lassen sie das Boot innerhalb kürzester Zeit ins Wasser. Währenddessen fahren weiter draußen zwei Fähren aneinander vorbei. Die von ihnen erzeugten Wellen muss das kleine Boot erst einmal überwinden. Nach einigen Minuten heult der Motor auf. So schnell die Menschen auftauchen, sind sie im Schutz der Dunkelheit auch wieder verschwunden.

Samir hat dafür nicht genügend Geld. Er versucht nahezu täglich, über die Fähren oder durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu kommen. Doch seine Chancen stehen schlecht. Die hohe Polizeipräsenz, meterhohe Grenzzäune und die Kameraüberwachung in der ganzen Stadt zeigen Wirkung. Auch nach Dutzenden Versuchen will es ihm nicht gelingen.

Finanziert wird diese Abschottungspolitik unter anderem durch die britische Regierung. Sie hat in den vergangenen Jahren umgerechnet mehr als 130 Millionen Euro für die Verbesserung der Grenzsicherung in Frankreich gezahlt. Im Juli dieses Jahres sind weitere 50 Million Euro nach Frankreich geflossen. Seit dem Brexit steht die britische Regierung unter Zugzwang. Sie hatte nämlich unter anderem versprochen, dass nach dem Austritt aus der Europäischen Union auch die »illegale Einwanderung« nach Großbritannien deutlich reduziert werden könne. Der Ausstieg der Briten aus der EU bedeutete auch den Ausstieg aus dem Dublin-Verfahren. Dieses sieht vor, dass jeweils das erste europäische Land, in dem ein Mensch registriert wurde, für das Asylverfahren verantwortlich ist. Die britischen Abschottungsmaßnahmen sind aber nur bedingt erfolgreich. Alleine bis August sollen in diesem Jahr nach Angaben des Innenministeriums in London 10 711 Menschen mit Booten britisches Festland erreicht haben. Im gesamten Jahr zuvor waren es noch etwas mehr als 8000 Geflüchtete.

Als Reaktion auf diesen Anstieg hat die britische Innenministerin Priti Patel im März einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der bis zu vier Jahre Haft vorsieht, wenn Menschen illegal nach Großbritannien einreisen. Noch befindet sich das Gesetz auf dem Weg ins britische Oberhaus. Es wurde noch nicht verabschiedet. Aber kurzfristig zieht die Regierung des konservativen Premierministers Boris Johnson verschiedene Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr in Erwägung. Diese reichen von Lagern für Geflüchtete im Südatlantik bis hin zu Rückführungen in französische Gewässer. Diese sogenannten Pushbacks nach EU- und internationalem Recht illegal. Trotzdem wurden diese Maßnahmen vor einigen Wochen vom britischen Grenzschutz auf dem Ärmelkanal trainiert.

Das geplante Antiasyl-Gesetz der britischen Regierung wird nicht nur von linken Oppositionellen kritisiert. Ende September befand das UN-Flüchtlingswerk UNHCR darüber, dass nach den Vorhaben der Regierung in London Asylsuchende mit »ungerechtfertigten Strafen« belegt und illegal Einreisende als »unwürdig und unerwünscht« stigmatisiert würden.

In Calais zeigt sich symbolisch der europäische Umgang mit Geflüchteten. Niemand will sie haben. Wer es aus den Lagern in Libyen über das Mittelmeer hierher schafft, wird in dieser Zwischenstation nicht zur Ruhe kommen. Unnötig komplizierte Asylverfahren sowie die fremdenfeindliche Politik der EU-Staaten zwingen die Menschen erneut, ins Boot zu steigen, um nach Großbritannien zu gelangen. Samir will es noch einen Monat lang versuchen. Was er machen will, wenn es nicht klappen sollte, ist ungewiss. Das Einzige, was er sicher weiß: In Calais bleibt er nicht.

*Samirs Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert. Sein richtiger Name liegt der Redaktion vor.

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