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Überflüssig? Ja, aber spektakulär
Die Nations League hat unter Fußballfans einen schlechten Ruf. Dabei bietet sie derzeit sportlich eine unerwartet hohe Qualität
Thomas Müller hat sich auf einen schönen Juni am Meer gefreut, vielleicht auch in den Bergen, als gebürtiger Oberbayer hat er da gewisse Vorlieben. Daraus wird nichts. Jedenfalls nicht im kommenden Sommer, auch wenn die Bundesliga schon Mitte Mai den Spielbetrieb beendet und die Fußballweltmeisterschaft in Katar aus den bekannten Gründen erst im Winter ausgespielt wird. Für den Stürmer vom FC Bayern München aber ist dann noch lange nicht Schluss.
Ach ja, die Nations League, hat Müller zur allgemeinen Belustigung erzählt, als er sich in Hamburg mit den Kollegen der Nationalmannschaft zum Länderspiel gegen Rumänien traf. Gleich vier Spieltage dieses neuen Wettbewerbs stehen im Juni 2022 an. Es wird der Start in die dritte Auflage dieser Nationenliga sein, von der deutsche Fußballfreunde in ihrer überwiegenden Mehrzahl wahrscheinlich gar nicht wissen, wer die erste gewonnen hat und dass der zweite Champion in diesen Tagen in Italien ausgespielt wird.
Am Sonntag treffen sich im Giuseppe-Meazza-Stadion zu Mailand Spanien und Frankreich, um im Finale den Nachfolger des Premieren-Siegers Portugal zu ermitteln. Großer Fußball im kleinen Rahmen eines Turniers, das schwer mit dem Vorwurf zu kämpfen hat, dass es in erster Linie dem europäischen Dachverband Uefa zur Geldvermehrung dient. »Vom Stellenwert her ist ein Nations-League-Spiel im Vergleich zu anderen Spielen schon etwas anderes«, findet Thomas Müller - und meint das gewiss nicht positiv.
Es ist auch schwer zu widerlegen. Es bestand im eng getakteten Terminkalender nicht unbedingt Bedarf nach einem weiteren Turnier, und die Patina der Tradition lässt sich nun mal nicht per Verbandsdekret erzeugen. Aber auch die Europameisterschaft ist bei ihrer ersten Ausspielung im Jahr 1960 in Deutschland belächelt worden, der damalige Bundestrainer Sepp Herberger hielt sie für »Zeitverschwendung, reine Zeitverschwendung!« Das jüngste, mit 24 Mannschaften aufgeblähte EM-Turnier in ganz Europa hat eher bescheidenes Interesse hervorgerufen. Und auch um den Stellenwert der Weltmeisterschaft war es schon mal besser bestellt als nach der Vergabe des kommenden Turniers nach Katar und der künftigen Erweiterung auf 48 Mannschaften.
Was die sportliche Qualität betrifft, muss sich die Nations-League-Endrunde keineswegs vor den etablierten Wettbewerben verstecken. Beide Halbfinals zeigten in dieser Woche beste Unterhaltung auf einem Niveau, wie es bei den parallel dazu laufenden Qualifikationsspielen für Katar 2022 kaum zu erwarten ist. Erst nahmen am Mittwoch in Mailand die Spanier Revanche für den K.o. im EM-Halbfinale und fügten dem Europameister Italien beim 2:1 die erste Niederlage nach zuvor 37 ungeschlagenen Spielen zu. Spektakulärer noch gestalteten die Spanier ihren Finaleinzug, als sie am Donnerstag gegen Belgien einen 0:2-Rückstand aufholten und in den Schlussminuten den Treffer zum 3:2-Sieg setzten. »Das ist der Fußball, den wir lieben«, sprach Frankreichs Trainer Didier Deschamps. »Wenn du auf der guten Seite des Wahnsinns bist, ist es großartig. Im Sommer waren wir auf der schlechten Seite«, erinnerte er an das sensationelle Aus im EM-Achtelfinale gegen die Schweiz.
Die Nations League mag ein überflüssiges Kunstprodukt sein, aber sie bietet in ihrer Finalrunde, was EM und WM schon lange nicht mehr bieten: eine Bühne, auf der ausschließlich die Besten der Besten vorspielen. Qualitätssteigernd kommt hinzu, dass die aktuelle Ausspielung wegen der Corona-Pandemie vom ursprünglich geplanten Termin im Sommer in den frühen Herbst verschoben wurde. Also in eine frühe Phase des Fußballjahres, in der noch alle Protagonisten Lust auf Fußball haben und nicht ihre in gefühlt 100 Saisonspielen ermüdeten Beine noch einmal über den Rasen schleppen müssen.
Wann hat es zuletzt auf Länderspielebene ein so begeisterndes Spiel gegeben wie das Halbfinale am Donnerstag in Turin? Mit furiosen Belgiern, die endlich mal ein großes Turnier gewinnen wollten, durch Yannick Carrasco und Romelu Lukaku schnell zwei Tore vorlegten und in der Folge keineswegs daran dachten, diesen Vorsprung in der zweiten Halbzeit zu verwalten.
Aber Frankreich ist eben Frankreich. Eine Fußballmacht, die über 90 Minuten lang dominiert und besiegt werden will. Binnen sieben Minuten trafen stattdessen Karim Benzema und Kylian Mbappé zum 2:2, und der Wahnsinn ging munter weiter.
Es gab da kein ödes Ballgeschiebe mit anschließendem Elfmeterschießen, wie es im Sommer bei der EM oft zu beobachten war. Drei Minuten vor Schluss jubelten wieder die Belgier, aber Lukakus vermeintliches Siegtor fand wegen einer Abseitsstellung keine Anerkennung. Dann kam die letzte Minute und mit ihr Theo Hernández. Der jüngere Bruder des Münchner Profis Lucas wuchtete den Ball vom Kreidestrich des Strafraums unter die Latte, was für den Sonntag gleich zwei schöne Geschichten ergibt: Erstens ist Hernández im Land des Finalgegners Spanien aufgewachsen und bei Atlético Madrid ausgebildet worden. Zweitens verdient er sein Geld als Profi beim AC Mailand, in dessen Stadion am Sonntag gespielt wird. »Was für eine Nacht!«, twitterte der 23-jährige Verteidiger nach dem ersten gemeinsamen Länderspiel mit seinem Bruder. »Ich bin stolz auf diesen großartigen Sieg und auf diese Teamarbeit. Nächste Haltestelle: Milan!«
Juvenile Leidenschaft prägt diese Finalrunde. Auch auf spanischer Seite, wo offiziell die Granden Sergio Busquets und César Azpilicueta den Ton angeben, der Spielstil aber von einer neuen Generation bestimmt wird. Beide Tore gegen Italien schoss der 21-jährige Ferran Torres, der im Alltag vom katalanischen Fußballheiligen Pep Guardiola in Manchester angeleitet wird. Ihm zur Seite stehen Nachwuchskräfte wie Mikel Oyarzabal (23), Bryan Gil (20), Yeremi Pino (18) oder Pablo Martín Páez Gavira, genannt Gavi. Der Mittelfeldmann vom FC Barcelona lief am Mittwoch zum ersten Mal für Spanien auf und hat Anfang August seinen 17. Geburtstag gefeiert. Damit ist Gavi der jüngste Debütant der spanischen Länderspielgeschichte. Der Kolumnist der spanischen Sport-Tageszeitung »Marca« fragte scheinbar irritiert: »Wo bist du denn hergekommen?«
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