- Politik
- Jüdische Geschichte
So real
Nationalsozialisten brannten 1938 die Große Synagoge in Erfurt nieder. Ein Geschichtsprojekt hat das Gebäude jetzt virtuell rekonstruiert
Es muss für Außenstehende ziemlich eigenartig - um nicht zu schreiben tollpatschig und orientierungslos - aussehen, wie man mit der Brille vor dem Toraschrein wandelt. Mitten durch die Reihen von Bänken, auf denen Gebetsbücher liegen. Einen Schritt nach links, bloß nicht an eine der Bänke stoßen, die nur mit der Brille zu sehen sind. Den Kopf nach links und rechts und oben und unten neigend, um all die Details in sich aufnehmen zu können, die sich den eigenen Augen bieten, von außen aber nicht einmal zu erahnen sind. Die liebevoll gestalteten Kerzenhalter. Die kräftig rosafarben verzierten Wände. Die auf dem Schrein abgerollte Thora.
Doch es ist egal, wie es von außen zu sein scheint, von innen sieht die Synagoge großartig aus. Eine solche Brille bietet einen neuen Zugang zur Geschichte im Allgemeinen sowie im Speziellen zu dem Gotteshaus, das tatsächlich unwiederbringlich verloren ist - und zum einstigen jüdischen Leben, das verloren gehen wird, wenn nun die letzten Zeitzeugen sterben.
Die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Erfurts ist Teil des Themenjahres »Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen«. Und damit möglichst viele Menschen die Möglichkeit haben, dieses von den Nazis zerstörte Gotteshaus mittels VR-Brillen zu besichtigen, lässt sich die Technik an drei Standorten in der Landeshauptstadt ausleihen:
- Im Showroom »360Grad Thüringen Digital Entdecken« der Thüringer Tourismus Gesellschaft am Hauptbahnhof, Willy-Brandt-Platz 1, 99084 Erfurt.
-
Im Erinnerungsort Topf & Söhne, Sorbenweg 7, 99099 Erfurt.
-
In der Neuen Synagoge der Jüdischen Landesgemeinde, die am historischen Standort der Großen Synagoge errichtet worden ist, Max-Cars-Platz 1, 99084 Erfurt.
Die Nutzung der Brille ist kostenlos. Alle weiteren Informationen zu Öffnungszeiten der Häuser und zu Voranmeldungen gibt es im Internet unter: www.juedisches-leben-thueringen.de. sh
Die Große Synagoge in Erfurt war ein Prachtbau mit einer goldenen Kuppel. Sie wurde 1884 geweiht, lag am Rande der heutigen Innenstadt Erfurts und bot etwa 500 Menschen Platz. Nach Einschätzung von Historikern war der Bau Ende des 19. Jahrhunderts ein Meilenstein für das jüdische Leben in Deutschland. Er war ebenso Ausdruck der zunehmenden politischen Gleichberechtigung der Juden, wie er diese Emanzipation weiter vorantrieb.
Dieser Aufbruch in eine neue, scheinbar bessere Zeit währte in Erfurt freilich ebenso wie in anderen Teilen Deutschlands und Europas bekanntermaßen nur wenige Jahrzehnte. Schon etwa ein halbes Jahrhundert nach seiner Einweihung wurde dieses jüdische Gotteshaus zerstört. Wie mehr als 1400 Synagogen und Betstuben wurde auch die Große Synagoge Erfurt während des Novemberpogroms von 1938 von Nationalsozialisten angegriffen und abgebrannt. Später wollte die Stadt Erfurt von der jüdischen Gemeinde sogar noch die Kosten für die zwei Kanister Benzin erstattet haben, die zum Anzünden der Synagoge benutzt worden waren.
Hitler ist seit 1945 tot, das Judentum in Deutschland aber lebendig - wenn auch weiterhin bedroht. Den Nazis ist es eben nicht gelungen, die Erinnerung an dieses Gotteshaus gänzlich zu zerstören.
Nachdem ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen etwa ein Jahr lang an der virtuellen Rekonstruktion der Synagoge gearbeitet hat, lässt sich dieser Ort heute sogar wieder besuchen, betreten, erleben, gar sinnlich erfahren. »Das hat«, sagt die Leiterin dieses Teams, Annegret Schüle, »noch einmal eine ganz andere Qualität, als wenn ich Fotos der Synagoge anschaue oder davon in einem Geschichtsbuch lese.« Wer jeden Teil und jeden Winkel der Synagoge und ihres Umfeldes erkundet, könne leicht eine Stunde »in der Brille« zubringen. Schüle arbeitet als Leiterin des Erinnerungsorts Topf & Söhne in Erfurt und ist gleichzeitig Oberkuratorin der Geschichtsmuseen der Landeshauptstadt.
Die Brille, die diesen Synagogenbesuch erfahrbar macht, ist eine sogenannte VR-Brille; VR wie virtuelle Realität. Sie ist deutlich größer als eine normale Brille und wird ähnlich wie eine übergroße Skibrille über den Kopf gezogen. Wer sie vor den Augen hat, vergisst beinahe sofort, wo er sich tatsächlich befindet. Denn die Brille projiziert den Trägern eine künstliche, virtuelle Welt, in der sich Dinge sogar anfassen, bewegen und hören lassen, in der jede Bewegung des Kopfes den Blick auf einen neuen Teil dieser physisch nicht mehr existierenden und trotzdem auf einmal wieder realen Welt freigibt.
Während es für Außenstehende so aussehen mag, als rudere deren Träger unkontrolliert mit den Armen in der Luft, kann dieser mithilfe der Brille sogar den virtuellen Thorazeiger, einen silbernen Lesestab, heben und senken. Die entsprechende Technik wird seit einigen Jahren immer häufiger in der Welt der Computerspiele eingesetzt.
Dass sich eine von den Nazis zerstörte Synagoge auf diese Weise heute wieder besuchen lässt, ist nach Angaben von Schüle bislang deutschlandweit einzigartig. Zwar gebe es noch andere, ähnliche Projekte in der Republik, sagt sie. Doch seien diese noch nicht so weit, dass sie schon der Öffentlichkeit vorgestellt werden könnten. Neben Schüle sowie einer Historikerin und einem Kommunikationswissenschaftler der Universität Erfurt haben auch eine Bauplanerin und ein Mediengestalter der Fachhochschule Erfurt an dem Projekt mitgearbeitet - unterstützt von der jüdischen Landesgemeinde und ihrem Rabbiner Alexander Nachama. Von ihm, sagt Schüle, stamme die Idee, auf den Bänken der Synagoge Gebetsbücher zu legen. »Das war technisch ziemlich aufwendig.« Aber die VR-Synagoge sollte lebendig wirken, wie es das reale Vorbild schließlich auch war. Das war ja kein Museum, sondern ein Haus, in dem der Glaube praktiziert wurde.
Eigentlich hätte sich diese Lebendigkeit auch dadurch erzeugen lassen, dass die Macher dieses Projekts künstliche Menschen erschaffen hätten, die in der Synagoge hätten beten oder feiern können. Genau darauf aber habe man bewusst verzichtet, sagt Schüle. Denn so großartig die VR-Technik auch ist, so sehr sie gerade einem jungen, digitalaffinen Publikum einen neuen, lebendigen Zugang zur Geschichte ermöglicht, so sehr hat diese Technik ihre Grenzen. Vielleicht nicht so sehr technische. Aber doch ethische.
Insbesondere, argumentiert Schüle, sei es selbst unter Zuhilfenahme dieser Technik unmöglich, in die Gefühlswelt von Menschen einzutauchen, die vor langer Zeit gelebt haben, unter Bedingungen, die so anders sind als heute. »Wir können den Raum schaffen, in dem Geschichten passiert sind, und diese Geschichten erzählen«, sagt Schüle. »Doch Gefühlswelten lassen sich durch so eine Rekonstruktion nicht nachvollziehen.«
Aus dem gleichen Grund ist Schüle skeptisch zu etwaigen Überlegungen, mittels der Brille heute lebenden Menschen einen virtuellen Eindruck von Orten der Vernichtung zu geben - ihnen also zum Beispiel in der Brille die Viehwaggons zu zeigen, mit denen die Nazis Juden in die Vernichtungslager gefahren haben. Oder gar das Innere von Gaskammern.
Niemals, sagt Schüle, werde sich heute nachfühlen lassen, was Menschen damals durchmachen mussten; schon deshalb nicht, weil jeder, der eine VR-Brille trägt, weiß, dass er sie nur absetzen muss, um wieder in die reale Welt zu gelangen. Das heißt: Was sich mit solchen Rekonstruktionen von Orten des Grauens erreichen ließe, wäre höchstens die Befriedigung einer voyeuristischen Lust am Leid anderer.
Deshalb sind es genau diese grundsätzlichen, einschränkenden Erwägungen, die dazu führen, dass von der Zerstörung der Synagoge in der virtuellen Welt nicht mit lodernden Flammen und hallenden Axtschlägen erzählt wird - sondern sehr klug vom Dachboden des Gebäudes aus, was auch die Gewähr dafür bietet, dass die Besucher der Synagoge zunächst die Gelegenheit haben, den Bau als Teil der jüdischen Kultur zu erkunden, die durch viel mehr definiert wird als dadurch, dass die Nazis sie zerstörten.
Auf diesem Dachboden - den man betritt, indem man einen neben dem Thoraschrein gelegenen Aufgang hinauf wandelt - stößt man auf die Schilderungen des Synagogendieners Hermann Kormes, der dabei war, als die Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Brand gesetzt wurde. Kormes hatte sich damals mit seiner Frau auf den Dachboden geflüchtet. »Als wir die Treppen hinunterliefen, hörten wir, dass Leute vom Innenraum der Synagoge her die Tür zum Treppenhaus mit Äxten einschlugen«, sagte er 1963 bei den Ermittlungen gegen die Brandstifter.
Als er von den Nazis in dieser Nacht in eine Turnhalle verschleppt wurde, kam er kurze Zeit später erneut an seiner Synagoge vorbei und sah, wie sie bereits brannte.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.