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Wenn man frittiert wird
Eine grandiose Heftigkeit, die über Frauen und Männer hereinbricht: »Dornauszieher« von Hiromi Itō
Eine Mutter telefoniert mit der längst erwachsenen Tochter. Im Zentrum steht die Frage, wann diese mal wieder zu Besuch kommt. »Bald«, lautet die Antwort. Der Gesprächsablauf wiederholt sich in den kommenden Tagen.
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Hiromi Itō: Dornauszieher. Der fabelhafte Jizō von Sugamo.
A. d. Jap. v. Irmela Hijiya-Kirschnereit. Matthes & Seitz, 336 S., geb., 22 €.
Die Situation ist vielen vertraut, die ihr Elternhaus verlassen haben und in die Fremde gezogen sind. In diesem Fall lebt die Mutter in Japan, und die Tochter, zugleich die Ich-Erzählerin in Hiromi Itōs Roman »Dornauszieher«, hat es vor vielen Jahren nach Südkalifornien verschlagen. Irgendwann stellt sich heraus, warum die Mutter so hartnäckig bleibt: Sie möchte, dass ihre Tochter für sie auf das Postamt geht!
Schon die Eröffnungsszene der Erzählung führt uns eine der Stärken der in ihrem Heimatland als Autorin von Lyrik, Kinderbüchern, Essays sowie Erziehungs-, Ehe- und Lebensberatungsbüchern berühmten Autorin vor: Sie bricht die Beschreibung von an und für sich sehr gewöhnlichen Alltagssituationen durch Humor.
Die Ich-Erzählerin, eine Lyrikerin in mittleren Jahren, befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie fliegt, um den der in der japanischen Kultur verankerten Kindes- und vor allem Tochterpflichten zu genügen, mehrmals im Jahr über den Pazifik, um sich um ihre kranken Eltern zu kümmern, und hat in ihrer Wahlheimat USA den ebenfalls gebrechlich gewordenen, viele Jahre älteren, zuweilen nörgelnden Mann und eine noch vorpubertäre Tochter an der Backe, die sie nach Japan mitnimmt, um sie mit ihrer Herkunftskultur vertraut zu machen.
Stress ist vorprogrammiert: »Der letzte Tag in Japan war der 24. Dezember, wenn wir heute losfliegen würden, kämen wir transpazifisch noch am selben Tag in Kalifornien an und könnten gemeinsam mit der Familie Weihnachten feiern - so war es mit meinem Mann abgesprochen. Doch mein Mann ist Jude, ich bin Buddhistin, was haben wir denn mit Weihnachten zu schaffen? Aber die Familie, es geht um die Familie!«
Die 1955 in Tokio geborene Autorin wuchs als Einzelkind im kleinbürgerlich und proletarisch geprägten Stadtteil Itabashi auf, studierte japanische Literatur und trat seit 1976 mit Gedichten an die Öffentlichkeit, die zuerst in Zeitschriften publiziert wurden. Außerdem übersetzte sie Texte aus älteren Epochen in modernes Japanisch. Ihr Roman »Dornauszieher« erschien, wie das in ihrem Geburtsland nicht nur im Falle der Mangas, der japanischen Comics, noch heute üblich ist, zunächst in monatlichen Folgen in einer Literaturzeitschrift, bevor er in einem Band publiziert wurde.
Zuweilen mischt sich eine gehörige Portion Drastik in ihre Darstellung. Beispielsweise wenn sie schildert, wie sich die Rollen zwischen den Generationen verkehren, als die Mutter der Erzählerin pflegebedürftig wird und beim Toilettengang auf die Hilfe der Tochter angewiesen ist. Während sie die säuerlich riechenden Ausscheidungen ihrer Babys so schön fand, dass sie, so erinnert sie sich, fast Lust gehabt hätte, sie mit der Fingerspitze aufzunehmen und abzulecken, ist der weiche Kot, den sie der Mutter vom Hintern abwischt, »einfach Scheiße«, deren Geruch sie nur schwer los wird.
Größeres Unbehagen bereitet ihr jedoch der Umstand, dass die alte Frau nun isst wie ein Kleinkind. »Wenn ich ihr einen Reiskloß vom Kiosk gab, krallte sie ihn, im Rollstuhl in einer Ecke des Speisesaals der Klinik sitzend, mit den zwei noch beweglichen Fingern und führte ihren Mund daran. Hör doch auf, so unappetitlich zu essen, hatte ich seit meiner Kindheit oft zu hören bekommen. Genau das war es doch, oder? Jetzt tust du’s ja selber, hätte ich fast gesagt, mit dem Echo ihrer Rügen im Ohr.«
Auch für das alles andere als spannungsfreie Zusammenleben mit ihrem um einige Jahrzehnte älteren Ehemann findet sie Worte, die nichts beschönigen. Aufgewachsen in einer jüdischen Intellektuellen- und Streitkultur, » ist er unter den nackten Klingen der Worte hindurchgegangen. Wenn er spricht, pickt er genüsslich mein holpriges Englisch wie mit Stäbchen auf und wirft es ins heiße Tempura-Öl. Zischend werde ich frittiert. Und wie eine Garnele ziehe ich mich zusammen.« Nur um ihn dann ihrerseits mit spitzen Worten als jemanden zu schildern, der ganz und gar aus der Zeit gefallen ist: »Auch in Jahren weit über doppelt so alt wie ich, erinnert er sich noch an die Bombardements im letzten Weltkrieg: Früher hatte er direkt neben Pink Floyd oder T. Rex oder dergleichen gewohnt und den Lärm von nebenan ertragen, wunderte sich allerdings, warum die jungen Leute von heute so laut sind, daran lässt sich ablesen, wie alt er ist.«
Ihre Position zwischen den Kulturen führt die Erzählerin zu Beobachtungen wie diesen: »Die amerikanische Kultur verachtet vor allem physische Gewalt. Nicht einmal einen Finger darf man auf andere richten. Nein, nein. Das ist eine Riesenlüge. Wer in dieser Kultur ein Gewehr hält, kann so viele Menschen töten, wie er will. Töten darf man, nur keine Gewalt gegen andere anwenden. Never, never, denken die Leute. All oder Nothing, denken sie. Never.«
Wichtige Begriffe und Traditionen, die dem nichtjapanischen Leser nicht geläufig sind, werden in einem Anmerkungsapparat erläutert. Die Übersetzerin Irmela Hijiya-Kürschnereit steuert zudem einen Essay bei, der einen Einblick gibt in das Schaffen der Autorin und in die Feinheiten der Übersetzungskunst. Ihre Schriftstellerkollegin Kawakami Hiromi sagt: »All das Persönliche, das in diesem Buch ausgebreitet wird, ist ergreifend bis zum Niederknien, doch all dies widerfährt ja nicht nur der Autorin - man spürt eine grandiose Heftigkeit, wie sie über Frauen und Männer weltweit hereinbricht, es packt einen unmittelbar. Nein, das ist beileibe nicht nur privat, das ist etwas wahrlich Allgemeines.«
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