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Lebendige Erkenntnis
Vor 50 Jahren starb der Philologe und Literaturwissenschaftler Peter Szondi. Er begründete die Komparatistik als Disziplin und vertrat eine Literaturwissenschaft, die das Subjektive nicht außen vor lässt
Wenn dieser Tage zahlreiche junge Menschen ihr Studium beginnen, sind unter ihnen auch viele, die sich für Germanistik, Komparatistik oder Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft eingeschrieben haben. Sie werden sich unter anderem fragen, wie man sich dem Werk eines Schriftstellers auf wissenschaftliche Weise nähern kann. Folgt man, wie etwa bei einer Interpretation in der Schule, einfach den eigenen willkürlichen Eingebungen oder dem Alltagsverstand? Oder sollte man im Gegenteil darauf verzichten und nur geprüftes Wissen aus der wissenschaftlichen Literatur zusammensuchen und -fügen? Es ist keineswegs wahrscheinlich, dass die Studierenden am Ende ihres Studiums auf diese Fragen Antworten gefunden haben werden. Denn noch immer werden Fragestellungen der Hermeneutik, also der Lehre des Verstehens von Kunstwerken beziehungsweise literarischen Texten, in der Germanistik und deutschsprachigen Literaturwissenschaft eher am Rande behandelt - nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung.
Lesende und denkende Menschen
Wie Literaturwissenschaft eigentlich zu betreiben sei, fragte sich auch Peter Szondi. Er war einer der Pioniere einer Literaturwissenschaft, die das Konzept der Nationalphilologie verwarfen, um stattdessen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Literatur jenseits nationaler Grenzen aufzudecken. Von 1965 bis zu seinem Tod 1971 war Szondi erster Professor am neu eingerichteten Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität (FU) Berlin.
In seinem 1967 publizierten Essay »Über philologische Erkenntnis« legte er seine programmatische Auffassung von Literaturwissenschaft dar. In der im anglophonen Raum gebräuchlichen Bezeichnung »literary criticism« sei schon enthalten, was man im deutschsprachigen Raum kaum wahrhaben wolle: Dass es sich bei der akademischen Disziplin nicht um eine Wissenschaft im positivistischen Sinne handele. Denn die Literatur, so kann man mit Szondi sagen, besteht nicht aus Fakten. Wörter und Sätze verbinden sich zu einem je einzigartigen Gebilde, zu einem Kunstwerk, dessen Gehalt nicht gleichsam geistlos, sondern nur unter Anstrengung des subjektiven Spürsinns und Intellekts erfasst werden kann. So kann etwa dasselbe Wort in verschiedenen Zusammenhängen mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegt sein. Deshalb ist Szondi zufolge das Subjekt, also der lesende und denkende Mensch, aus dem Interpretationsvorgang nicht wegzudenken. Er muss sein Wissen immer wieder erneut mit der Erfahrung der Lektüre konfrontieren. Szondi formuliert das so: »Das philologische Wissen hat seinen Ursprung, die Erkenntnis, nie verlassen.«
Ein solches Verständnis von Literaturwissenschaft geht mit großer Genauigkeit und Nähe zu den literarischen Texten einher. Das hatte Szondi schon früh in seinen eigenen akademischen Schriften demonstriert. Bereits seine einflussreiche, weil publikumswirksam bei Suhrkamp verlegte Doktorarbeit, 1954 bei Emil Staiger an der Universität Zürich eingereicht, zeigt, dass er mit sensiblem Radar erfasste sprachliche Besonderheiten mit umfassenden historisch-materiellen Entwicklungen zu verknüpfen wusste. Der Titel lautet »Theorie des modernen Dramas«: In knapper, eleganter Form führt Szondi seine These aus, dass das Drama in der Moderne sukzessive aus seiner ursprünglichen Form herausgetreten sei, weil der dramatische Stoff es erforderte. So ließen sich etwa die entfremdeten gesellschaftlichen Zustände und die unter ihnen leidenden, oft lasterhaften Individuen in den Sozialdramen Gerhart Hauptmanns kaum mehr mit der dialogzentrierten, in idealistischer Weise mündige Menschen voraussetzenden Form des klassischen Dramas fassen. Die Inhalte des Dramas drängten Szondi zufolge ab Ende des 19. Jahrhunderts zur epischen, erzählenden Form, was die damaligen Dramatiker entweder zur Verleugnung dieses Konflikts oder zu innovativen Lösungsansätzen verleitete.
Kaum zu übersehen ist, dass Titel und theoretisch-philosophische Ausrichtung von Szondis Promotionsschrift an Georg Lukács, vor allem dessen »Theorie des Romans« von 1916 und dessen Texte zum Theater wie »Zur Soziologie des modernen Dramas« erinnern. Dass der junge Literaturwissenschaftler sich nicht nur für Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, sondern auch für Lukács’ Ästhetik und Geschichtsphilosophie interessierte, war neben seiner individuellen Neigung und einem allgemeinen Trend hin zur Literatursoziologie wohl auch biografischen Umständen geschuldet: 1929 als ungarischer Jude in Budapest geboren, gehörte Szondi dem Bildungsbürgertum der Hauptstadt an. Sein Vater, Leopold Szondi, war Psychiater und Begründer der sogenannten Schicksalsanalyse, ein von ihm entwickelter Persönlichkeitstest kam 1961 im Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zum Einsatz. Sein Onkel, László Radványi, hatte sich regelmäßig mit Lukács und anderen Intellektuellen in dem berühmten »Sonntagskreis« getroffen, später lebte er als Wirtschaftswissenschaftler unter dem Namen Johann Lorenz Schmidt in der DDR.
Außenseiter und Heimatloser
Szondis Weg hingegen führte in den Westen. Nachdem in Ungarn im Oktober 1944 die faschistischen Pfeilkreuzler in Ungarn an die Macht gekommen waren, sollte die jüdische Bevölkerung deportiert und ermordet werden. Doch dem jüdisch-ungarischen Anwalt Rudolf Kasztner gelang es, mit Eichmann einen Deal auszuhandeln: Gegen Schmuck und Geld durften 1670 Juden und Jüdinnen das Land zu verlassen, unter ihnen auch die Szondis. Mit dem sogenannten Kasztner-Transport gelangten sie zunächst für fünf Monate in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Von dort wurden sie in die Schweiz gebracht, viele reisten weiter nach Palästina oder in die USA. Die Szondis beschlossen jedoch, zu bleiben. So legte Peter Szondi seine Matura im Kanton Appenzell Ausserrhoden ab, danach studierte er in Zürich und Paris Germanistik, Romanistik und Philosophie. 1957 konnte er die Staatsbürgerschaft der Schweiz annehmen.
Szondis Verhältnis zum Judentum war zeitlebens schwer zu fassen. Er war kein Zionist und praktizierte sein Judentum nicht, weder religiös noch kulturell. Seine Arbeit galt zu großen Teilen der klassischen deutschen Literatur im weiteren Sinne. Im politischen und gesellschaftlichen Geschehen der Bundesrepublik blieb er dennoch stets ein Außenstehender. Israel, obwohl er dort 1968 für mehrere Monate als Gastprofessor war, stellte für Szondi aber keine Alternative dar. Dem jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, der ihm 1970 einen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft in Jerusalem vermitteln wollte, schrieb er, er habe verlernt, »zu Hause« zu sein: »Das ist eine Krankheit, die man vielleicht mit einer, aus welchem Grund auch immer, notwendig werdenden Emigration heilen könnte; aus freiem Willen bringe ich die Kraft zu diesem Schritt umso weniger auf, als ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage.«
Als ein »Heimatloser« mischte sich Szondi, der kaum das Wort »ich« verwendete und seine Lebensgeschichte nicht öffentlich thematisierte, vehement dort ein, wo sich nach dem Krieg der Antisemitismus der Deutschen zeigte. So griff er etwa den konservativen Literaturkritiker Hans Egon Holthusen scharf an, als dieser 1964 den Ausdruck »Mühlen des Todes« in dem Gedicht »Spät und tief« von Paul Celan bemängelte. Holthusen zählte den Ausdruck zu den »in X-Beliebigkeiten schwelgenden Genitivmetaphern« in Celans Werk - obwohl Eichmann diese Formulierung in Bezug auf Auschwitz verwendet hatte und bereits 1946 Billy Wilders und Hanuš Burgers Dokumentarfilm »Die Todesmühlen« zur Aufklärung über die Vernichtungslager gezeigt worden war. Und dem damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier (CDU) warf Szondi Anmaßung gegenüber den Überlebenden vor. Gerstenmaier hatte 1966 in einer Rede bei der Tagung des Jüdischen Weltkongresses in Brüssel behauptet, es sei bloß Hitler gewesen, der die Deutschen zum Judenhass verleitet habe, das deutsche Volk trage lediglich einen »Teil der Mitverantwortung« an der »Katastrophe der deutschen Juden«.
Literatur gegen nationalistische Ideologie
Mit den Verhältnissen nicht einverstanden zu sein, das prägte auch Peter Szondis wissenschaftliche Ausrichtung, wenngleich er bei seinen Literaturanalysen stets nah am jeweiligen Gegenstand blieb und kaum abstrahierende philosophische oder politische Werturteile aussprach. Die Weimarer Klassik betrachtete Szondi dementsprechend kritisch. Ihr Idealismus habe, wie er an einer Stelle in seinen Vorlesungen ungewöhnlich deutlich mitteilt, zu einer immer größer werdenden Entfremdung von der politischen Realität beigetragen, die schließlich in die Barbarei gemündet sei. Als Gegenpol figurierte für ihn Friedrich Hölderlin als Vertreter einer alternativen Klassik, deren Idealismus sich im Gegenteil zu Goethe und Schiller nie von der historischen Wirklichkeit losgesagt habe. Die jüdische Schiller-Begeisterung im 19. Jahrhundert hielt Szondi für die Folge eines falschen Bewusstseins - stellvertretend für den Irrglauben, durch Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft der Ausgrenzung und Verfolgung entgehen zu können. Szondis Praxis des unnachgiebigen Differenzierens ist angesichts dieser Äußerungen auch politisch zu verstehen: Gegen nationalistisch getränktes Pathos und die Rede von Vollkommenheit, die dem Faschismus den Weg geleitet haben mag, setzte er die Partikularität eines jeden Werks und die Unabgeschlossenheit des Ganzen.
Die Erinnerungsberichte ehemaliger Studierender Szondis in dem Sammelband »Nach Szondi«, den die heute am Peter-Szondi-Institut der FU lehrende Komparatistin Irene Albers 2015 herausgegeben hat, zeugen von einer besonderen Anfangszeit des Instituts: eine verwunschene Villa mit Apfelgarten, ein Rückzugsort für endlose Diskussionen angesichts der 68er-Studentenunruhen, im besten Sinne ein Elfenbeinturm mit einem Ordinarius, der verehrt und - als gnadenloser Kritiker studentischer Arbeiten - auch ein wenig gefürchtet wurde. Als Szondi, der schon lange an Depressionen litt, am 18. Oktober 1971 ohne Ankündigung verschwand, halfen seine Studierenden bei der Suche. Viele von ihnen ahnten, dass er sich das Leben genommen hatte. Drei Wochen später wurde er im Halensee gefunden. Szondi, der sich in großer Dichte und Präzision auszudrücken vermochte, hat ein überschaubares Werk hinterlassen, das sich noch immer zu lesen lohnt. Zu empfehlen ist auch die im vergangenen Jahr erschienene Biografie von Hans-Christian Riechers, die die Lebensumstände und Theoriebildung Szondis erhellend miteinander verknüpft.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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