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»Mehr Schönheit würde allen nützen«
Morgens um 4 Uhr geht es los bei Andreas Mähler. Um 7 Uhr baut er seinen Marktstand auf. Dort verkauft er Kleider aus der eigenen Näherei
Ich habe Sie kürzlich in Delitzsch getroffen. Sie hatten gerade dies und das an Ihrem Marktstand verschönert, zum Beispiel einen roten Gürtel um ein grün gemustertes Kleid gelegt. Wie lange dauert es, ehe der Stand in Ihren Augen perfekt ist?
Zwei Stunden benötige ich, ehe alles an seinem Platz ist. Für einen Wochenmarkt reichen eineinhalb Stunden, weil ich keine Dekoration anbringe.
Andreas Mähler führt den Familienbetrieb Strickerei Mähler, eine kleine Textilfirma im thüringischen Apolda. Seine Eltern hatten das Gewerbe gegründet, er stieg mit 19 Jahren ein, obwohl er eigentlich eine ganz andere Ausbildung gemacht hatte. Im Interview spricht er über den Untergang der alten Textilstadt Apolda, die Schwierigkeit, das Gewerbe in der heutigen Zeit weiterzuführen, und über seine Pläne für den Familienbetrieb in der Zukunft.
Sie bauen alles allein auf?
Ja, ich habe einen Hängerstand, das ist ein spezielles Marktmobil, bei dem ich die vier Seiten abklappen kann, und über alles erstreckt sich dann ein großes Dach von sechs mal vier Metern. Das Mobil kopple ich vom Auto ab, baue es auf. Dazu kommen die Markisen, die Kleiderpuppen, die Hängestangen, Schilder und Deko. Alles muss passen.
Wie beginnt Ihr Tag, bevor Sie losfahren?
Ich stehe um vier Uhr auf, koche mir einen Kaffee, gehe dann mit meinen Hund Gassi und fahre gegen halb sechs auf die Märkte, da ich bis spätestens um sieben mit dem Standaufbau begonnen haben muss.
Wurde denn das grüne Kleid gekauft?
Ja, es war als Erstes weg.
Wie viele Besucher kommen durchschnittlich?
Es kommen ungefähr 30 bis 40 an den Stand und gucken. Käufer allerdings sind dann nur maximal 15.
In welchen Städten präsentieren Sie Ihre Strickwaren?
In Apolda natürlich. Weimar. Ich fahre nach Naumburg. Dort findet an mehreren Tagen ein Wochenmarkt statt. Leipzig, Jena. Der Weihnachtsmarkt in Jena war unser Einstieg nach der Wende. Damit begann es. In den Neunzigern fuhr ich nach Meiningen, Gera, Gotha, Waltershausen zu den Wochenmärkten. Inzwischen umfasst mein Verkaufsgebiet Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt.
Auf wie viele Kilometer kommen Sie im Jahr?
Im Jahr fahre ich in etwa 20 000 bis 30 000 Kilometer, wobei es im Januar und Februar ruhiger ist und nur naheliegende Wochenmärkte stattfinden. Ähnlich ist es im Juni und Juli.
Was ist Ihre typische Kundschaft?
Bei den Wochenmärkten sind es die Älteren, auf den Sondermärkten ist es gemischt.
Sind Sie der gesprächige Typ am Marktstand?
Ja, schon. Ich liebe die größeren Märkte mit abwechslungsreichem Publikum. Da werden Späße gemacht. Es wird auch immer über Politik geredet. Am meisten aber liebe ich es, wenn ältere Leute ihre Lebensgeschichten erzählen. Meinen 1997 verstorbenen Großvater habe ich viel zu wenig befragt.
Gibt es negative Markterfahrungen? Ich denke da an das Wort »Schlüpferhändler«. Wie gehen Sie damit um?
Das gab es mal in Jena, weil die »Initiative Jena« sich für ihre Einzelhändler in der Innenstadt starkgemacht hat, was ich auch verstehe. Sie haben allerdings mit diffamierender Sprache gegen Marktteilnehmer gewettert. Wir haben aber zusammengehalten. Allerdings ist es so, dass von den Marktmeistern, die es in vielen Städten gibt, mehr auf die ästhetische Seite geachtet werden müsste, damit die Attraktivität der Märkte erhalten bleibt.
Haben Sie Kontakt zu indischen oder vietnamesischen Händlern?
Die Märkte sind ja sehr gemischt, und es gibt schon Kontakt. Aber wir sind ja alle als Einzelhändler auch Konkurrenten. Mal geht es freundlich, aber auch mal derb zu. Die Inder und Pakistani zum Beispiel verkaufen im Niedrigpreissegment Textilien. Alles aus der Kiste. Es sieht nicht schön aus, und Kunden werden mitunter sehr zum Kauf gedrängt. Bei mir kostet ein T-Shirt vielleicht 40 Euro, dort 10. Ich kann keinem Kunden seine Entscheidung übelnehmen, aber er sollte doch genauer schauen, was er für das Geld wirklich hat. Es soll auch ruhig auf allen Preisniveaus Angebote geben, aber das Gestaltungsbild müsste angehoben werden. Viele Märkte wollen gar keine Textilhändler mehr zulassen, und das gilt dann für alle.
Aus der Kiste verkaufen, das ist doch die Aldi-Erfolgsgeschichte - hässlich, aber begehrt.
Kann man so sehen! Aber mehr Schönheit würde allen nützen.
Über Politik reden Sie nicht so gern, doch ganz ohne geht es im Alltag nicht?
Ich lebe im ländlichen Raum, da spielt die große Politik weniger eine Rolle. Der Welthandel geht an uns vorbei, aber was uns hier bewegt, ist die Elektromobilität. Wie teuer wird ein E-Auto sein? Werde ich mir in drei, vier Jahren einen Tesla-Transporter leisten können? Ansonsten leben wir sowieso umweltbewusst, trennen den Müll, bestellen Gärten, pflanzen Bäume, bauen Häuser unter aktuellen energetischen Aspekten, und meine Schweinehälften hole ich vom Metzger, frisch geschlachtet.
Die Firma Schick, wie auf Ihrem Marktschild zu lesen ist, ist ein Familienbetrieb. Wer arbeitet mit, und wie sind Sie da »reingewachsen«?
Mein Opa hat den Privatbetrieb gegründet, quasi im Schuppen. Später, ich weiß nicht mehr wann, wurde die Strickerei in eine PGH Schick umgewandelt und verstaatlicht. 1986 konnte mein Vater sie wieder reprivatisieren als Firma Strickerei Mähler, wie sie heute noch heißt. Er führte die Strickerei mit meiner Mutter und einer Näherin. Ich bin seit meinem 19. Lebensjahr dabei. Ab den Neunzigern hatten wir dann noch einen Stricker eingestellt und arbeiteten als Fünf-Mann-Betrieb: mein Vater, meine Mutter, eine Näherin, ein Stricker und ich. In diesem Jahr sind meine Eltern in Rente gegangen. Mein Vater hilft aber noch im Büro.
Haben Sie im Betrieb Ihres Vaters auch Ihre Ausbildung absolviert?
Ich habe früh die Arbeit, die ja zu Hause stattfand, kennengelernt. Besonders die Technik hat mich interessiert. Zu den Materialeinkäufen in die Großspinnerei nach Niederschmalkalden durfte ich nicht mit. Allerdings bin ich nicht als Textilfacharbeiter, sondern als Maler ausgebildet worden und habe das spezielle Handwerk erst nach der Lehre von meinem Vater gelernt und abgeguckt.
Warum das?
Die Lehrausbildung fand in dem staatlichen Betrieb statt, in dem mein Vater früher tätig war. Da mein Vater sich selbstständig gemacht hatte, bekam ich dort keinen Lehrplatz. Man befürchtete wohl auch, dass ich Material abzwacken würde.
Was produzieren Sie?
Von der Gründung bis zur Wende haben wir ausschließlich Pullover und Strickjacken für Herren produziert. Dann haben wir die neuen, computergestützten Strickmaschinen gekauft und dafür angebaut. Bis 1995 haben wir eine längere Selbstfindungsphase durchlebt. Wir stellten auf Landhausmode um und produzierten bis 2000 auch Trachtenjacken. Ab der Jahrtausendwende wurde unsere Mode fraulicher, und es kamen Kleider hinzu und Ausgefalleneres. Wir haben immer zu neunzig Prozent selbst entworfen; wir als Familie. Der Rest sind Zukäufe.
Und in Zukunft?
Da die Produktion allein schon wegen der Stromkosten für die Strickmaschinen immer teurer wird und auch die Lohnnebenkosten immer weiter gestiegen sind, werden wir uns in Zukunft nur noch auf den Handel konzentrieren. Unsere Firma mit ihrem Namen bleibt bestehen, aber eben als reine Textilhandelsfirma.
Was gefällt Ihnen in stilistischer Hinsicht?
Das Strenge ist nicht so meins; schon eher das Flippige und Unerwartete, wenn es dann auch tragbar ist. Wir nehmen inzwischen auch mehr jüngere Mode mit in unser Marktprofil. Meine Töchter beraten mich, was angesagt ist. Wenn Sie mit drei Frauen leben, die alle einen etwas anderen Stil bevorzugen, sind sie modemäßig gut geschult. Dazu Recherchen im Internet und mit offenen Augen durch die Welt gehen.
Gab es irgendwann Existenzängste bei der Elterngeneration oder bei Ihnen?
Wir haben unser Geschäft 1990 aufgegeben und erkannt, dass es nur eine Chance zum Überleben gibt, wenn wir mit einer kleinen Produktion auf die Märkte gehen. Es waren sehr viele Leute damals auf den Märkten unterwegs, um sich so zu versorgen. Das hat uns gerettet. Angst hatte ich das erste Mal 2020 im ersten Corona-Lockdown. Fast alle Märkte waren zu. Naumburg hat aber mit einem kleinen Wochenmarkt weitergemacht. So konnten wir etwas verdienen. Ab Sommer haben wir Masken genäht. Ich hatte aber auch einen Plan B: notfalls als Angestellter im Einzelhandel.
Apolda war berühmt für Strick- und Wirkwaren. Nach 1989 wurden etliche Betriebe abgewickelt. In den 90ern gab es dann noch 20 bis 30 Betriebe. Und jetzt?
Jetzt gibt es vielleicht noch fünf. Die Firma Strickchick GmbH zum Beispiel oder Apoma. Es findet sich jedoch kein Nachwuchs mehr.
Trotz des inzwischen schon namhaften Designpreises, des »Apolda European Design Award«? 2020 wurde dieser zum zehnten Mal verliehen und eine erste Designerin aus Trier hat sich in Apolda angesiedelt.
Es gibt trotzdem keine Ausbildung mehr vor Ort - zu wenige Leute, die noch etwas vermitteln können. Sehr wahrscheinlich bleibt von der ganzen Strickwarenindustrie hier allein ein Museum wie das Glockenmuseum.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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