Gut und Böse gibt es nicht

Die Beraterin Ann Wiesental über sexualisierte Übergriffe in der Linken, transformative Arbeit und Machtverhältnisse

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 8 Min.

Wir hatten hier neulich in der Redaktion eine Diskussion, die sich an diesem Satz entspann: »Jeder in linken Bewegungskreisen weiß, dass seit Jahren und Jahrzehnten ein ständiger Krieg rund um die insbesondere von linken Männern fortwährend begangenen sexuellen Übergriffe und Vergewaltigungen herrscht.« Viele fragten sich: Kann das stimmen?

Das Problem ist, dass sexualisierte Gewalt nicht ernst genommen wird. Auch in der Linken wird sie akzeptiert, als ob das zum Normalzustand dazugehört. Ich denke, dieser Satz drückt nur eine bestimmte Schärfe aus, aber ich finde ihn überhaupt nicht verkehrt. Es gibt sehr viele Betroffene, auch in der Linken, denen geschadet und deren Leben sehr beeinträchtigt wird.

Ann Wiesental
Ann Wiesental lebt in Berlin und unterstützt Betroffene von sexualisierter Gewalt. Sie ist seit Anfang der 90er politisch aktiv, hat das Netzwerk Care Revolution mitbegründet und organisiert seit 2007 Konferenzen und Workshops zu »Antisexistischen Praxen«, in denen sie Unterstützungsarbeit für Betroffene von sexualisierter Gewalt, Trauma, Trans*diskriminierung, Sexismus anbietet. Zuletzt erschien von ihr das Buch »Antisexistische Awareness. Ein Handbuch« (Unrast-Verlag, 168 S., br., 12,80 €). Ulrike Wagener sprach mit ihr über sexualisierte Übergriffe in der linken Szene.

Können Sie dafür Zahlen nennen?

Laut einer Studie des Bundes haben 13 Prozent der erwachsenen Frauen sexualisierte Gewalt erlebt. Ich vermute, dass die Zahlen in linken Kontexten nicht groß anders sind. Aber dazu gibt es keine Erhebungen.

Die 13 Prozent beziehen sich allein auf strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt. Rund 60 Prozent erlebten sexuelle Belästigung. In der aktuellen Jugendstudie »Partner 5« gab ein Viertel der Mädchen an, Vergewaltigungsversuche erlebt zu haben. Bei divers-geschlechtlichen Jugendlichen waren es noch mehr. Der Autor der Studie fragt: Wurden Sie schon mal zum Sex gezwungen? Und nicht: Wurden Sie schon einmal vergewaltigt. Ist Vergewaltigung ein Tabu?

Es herrscht nach wie vor ein Vergewaltigungsmythos vor. Als »wirkliche Vergewaltigung« gilt nur, wenn eine fremde Person einen mit Gewalt überwunden und bezwungen hat. Aber wenn Personen - sei es in einer Beziehung, einer On-Off-Beziehung oder während eines One-Night-Stands - zum Sex gedrängt oder überrumpelt werden oder wenn die cis-männliche Person das Kondom während des Sex abzieht, obwohl Sex mit Kondom abgemacht war, wenn also Einvernehmlichkeiten überschritten oder gar nicht hergestellt werden, gilt das umgangssprachlich meist nicht als Vergewaltigung. Von der Gesetzeslage her sind wir mittlerweile bei »Nein heißt Nein« und ich würde sagen, dass wir in der Linken eher bei »Ja heißt Ja« oder bei Konsens sind. Aber das ist noch nicht bei allen angekommen.

Was genau heißt denn »Ja heißt Ja«, müsste man da für jede Handlung erneut nach Zustimmung fragen?

Einige nehmen das sehr genau und stellen bei jeder neuen Handlung Konsens her. Mensch kann das so machen und vielleicht wäre das auch gut. In der sexuellen Praxis läuft es oft anders ab. Aber ab irgendeinem Punkt sollte abgefragt werden: Hast du Lust, wollen wir Sex haben? Diese Frage sollte man auch während des Sex auf dem Schirm haben oder noch mal nachfragen, ob das weiter so ist. Es sollte auch die Offenheit bestehen, im Nachhinein zu besprechen, wenn etwas nicht in Ordnung war. Vielen Betroffenen geht es in erster Linie darum, in ihren Bedürfnissen als Mensch gesehen zu werden und nicht das Gefühl zu bekommen, benutzt worden zu sein.

In der Debatte um sexualisierte Gewalt taucht immer wieder das Stichwort »Definitionsmacht« auf. Sie beschreiben das als eine Form von Machtumkehr. Es bedeutet, dass den Betroffenen geglaubt wird und sie definieren, was ihnen passiert ist. Kritiker*innen sagen, man setze sich damit über rechtsstaatliche Grundsätze hinweg und die Unschuldsvermutung außer Kraft.

Ich finde die Unschuldsvermutung in diesem Kontext falsch. Ich vertrete den Ansatz, Betroffene zu unterstützen und zu stärken, damit sie in ihren Räumen bleiben können. Und die Unschuldsvermutung steht dem entgegen. Ich finde Definitionsmacht ein gutes Mittel, weil die Betroffene diejenige ist, der die Gewalt angetan wurde und die weiß, was ihr widerfahren ist. Und sie weiß auch, was sie braucht, um wieder handlungsfähig zu werden oder um sich in ihren Orten und Räumen wieder sicher bewegen zu können. Der Bezugspunkt hierbei ist ganz klar nicht Verurteilung oder Strafe, sondern Schutzraumherstellung und Wiederermächtigung der Betroffenen.

Dabei wird der vermeintliche Täter oft aus bestimmten Räumen ausgeschlossen. Was ist, wenn die Person zu Unrecht beschuldigt wird?

Ich halte die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, für sehr gering. In den meisten Fällen gehen Betroffene stillschweigend aus den Räumen, oft ohne dass es jemand mitbekommen hat. Es mag für eine Gewalt ausübende oder diskriminierende Person hart sein, bestimmte Räume und Gruppen zu verlieren, ich finde das aber vertretbar. Es gibt genug andere linke Räume, Gruppen, Kneipen.

Aber das Ansehen der Person wird ja auch geschädigt?

Meistens ist es nicht der erste Schritt der Betroffenen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Oft geht die Gewalt ausübende Person zuerst an die Öffentlichkeit. Oder die Betroffene tut es nach einiger Zeit, wenn auf ihre Bedürfnisse, Wünsche oder Forderungen nicht reagiert wird und mit einem Backlash geantwortet wird und sie das als »letztes« Mittel ansieht. Somit wird eine »Rufschädigung« in der Öffentlichkeit meist durch die Gewalt ausübende Person hergestellt. Der Betroffenen geht es nicht um »Rufschädigung« sondern meist um Schutz, Prävention oder Gerechtigkeit.

Sie sprechen von »Gewalt ausübender Person« statt von »Täter«. Warum?

Ich handhabe das unterschiedlich. Ich finde es schon wichtig, das Geschlechter- und Machtverhältnis klarzumachen: Die meisten Betroffenen sind Flinta, also Frauen, Lesben, Inter, Non-Binary, Transgender oder Agender und Queers, und die meisten Gewalt ausübenden Personen sind cis-Männer. Aber natürlich können Flinta auch Gewalt ausübend sein. Mir ist es wichtig, zu vermeiden, dass manche sich nicht gemeint fühlen als betroffene Person oder den Eindruck haben, die Gewalt, die ihnen angetan wurde, wird nicht richtig gesehen, wenn sie beispielsweise von Flinta ausgeübt wurde.

Das linke Selbstverständnis lautet oft: Bei uns ist alles besser, wir sind nicht rassistisch, sexistisch, klassistisch. Sind die Abwehrreflexe dadurch noch stärker?

Ich glaube nicht, dass die Linken besser sind. Auf dem Festival »Monis Rache« hat ein Mitorganisator 2016 und 2018 Kameras auf den Dixi-Klos installiert, Personen gegen ihr Wissen oder ihren Willen gefilmt und die Videos auf einer Pornowebsite hochgeladen und verkauft. In der Diskussion wurde dieses Verhalten teils entschuldigt und legitimiert, indem man den Konsum dieser Videos als sexuelle Präferenz bezeichnet hat, anstatt die Grenzverletzung zu thematisieren. Denn eine Grenze ist schon überschritten, wenn solche Videos konsumiert werden, die nicht einvernehmlich entstanden sind. Das ist bereits eine Gewaltform.

Der Täter war gut vernetzt in linken Strukturen. Sie haben in Ihrem Buch beschrieben, dass es oft Abwehrreflexe gibt, wenn Leute denken: »Das war mein guter Bekannter, da kann ich mir nicht vorstellen, dass er so was macht.«

Ich glaube, dass die Linke sehr moralisch ist. Es gibt Gut und Böse und es ist ganz schlimm, böse zu sein. Aber dieses Gut und Böse gibt es nicht. Ich fände es wünschenswert, wenn die Linke da ihre Haltung verändert. Es sollte klar sein: Wir alle machen Fehler, diskriminieren, überschreiten Grenzen. Und es sollte immer die Chance geben für Veränderung. In meiner transformativen Arbeit mit Gewalt ausübenden Personen arbeite ich viel mit linken weißen cis-Männern. Und das sind oft sehr liebe, nette, einfühlsame Männer, die zum Teil sehr feministisch unterwegs waren und sind, wo teilweise keine Person in ihrem Umfeld ihnen das zugetraut hätte. Aber das ist alles kein Indikator dafür, nicht übergriffig zu werden.

Wie kommt es dann dazu?

Ich finde es schwierig, eine Analyse dafür hinzulegen, warum Menschen zu Gewalt oder Übergriffen greifen. Stattdessen finde ich es wichtig, dass wir uns alle die Machtstrukturen bewusst machen, in denen wir leben sowie die Bedürfnisse und Grenzen von sich selbst und anderen. Das zu reflektieren und darüber zu kommunizieren - auch in unseren Beziehungen und Freundeskreisen - würde sehr helfen, etwas zu verändern. Hinschauen. Dann können Menschen nicht einfach über längere Zeiten eine bestimmte Praxis ausüben. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg - und die Linke ist ein dickes Brett.

Woran liegt das?

Sicherlich gibt es eine feministische und queer-feministische Linke. Aber es gibt auch immer noch cis-männliche Bündeleien und Machtstrukturen, in denen cis-Männer ihr Verhalten nicht verändern wollen, sich gegenseitig schützen und stärken. Auch andere Personen stützen diese Machtverhältnisse, verfolgen cis-männliche Wertvorstellungen.

Und was bräuchte es für einen Wandel?

Mehr Offenheit von denen, die jetzt von einer bestimmten Macht profitieren - und ein Wille zur Veränderung.

Das klingt so vage.

Wie ist es zum Beispiel bei euch in der Redaktion: Wer hat wo das Sagen? Haben alle gleich viel das Sagen? Traut sich jede Person, frei heraus zu sagen, was sie denkt, meint und fühlt? Wer lacht über welche Witze? Wer fasst wen wie an? Da gibt es total viele Tabus. Und oft können Flinta nicht vollumfänglich den Mund aufmachen und für sich und ihre Bedürfnisse eintreten.
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