Radikale Neuaufstellung statt leiser Tod

Faule innerparteiliche Kompromisse helfen der Linken nach der Wahlniederlage nicht weiter

  • Jule Nagel
  • Lesedauer: 9 Min.

Über die Stimmverluste ist bereits viel geschrieben worden. Sie sind nicht plötzlich gekommen, sondern ein schleichender Prozess, der sich mit Wähler*innenwanderungen zu anderen Parteien (v.a. SPD, Grüne. AfD), demographischen Effekten und einer vorerst gescheiterten West-Erweiterung erklären lässt. Hinzu kommen Probleme der Sichtbarkeit im Reigen der großen Kontrahent*innen (CDU vs. SPD/Grüne) und die oft erwähnte eigene Zerrissenheit bzw. das permanente Arbeiten von lautstarken Minderheiten gegen den Konsens der Partei.

In der Mittelfrist-Rückschau hat sich die Stärke der Linken vor allem aus der Schwäche der SPD genährt. Die Vorgängerpartei PDS dagegen fungierte stark als Interessenvertreterin der durch die politische Wende 1989/90 benachteiligten und abgehängten Teile der Ost-Bevölkerung. Beides ist für eine starke Linke weder erfolgversprechend noch zukunftsweisend. Es braucht in viel stärkerem Maße ein eigenes starkes Profil. Denn: Im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist nicht nur Platz für eine linke demokratisch-sozialistische Partei, sie ist hochgradig notwendig.

Jule Nagel

Jule Nagel ist seit 2014 Linke-Abgeordnete im sächsischen Landtag. Bei den Landtagswahlen 2014 und 2019 holte sie sich jeweils ein Direktmandat in Leipzig. Sie ist auch Mitglied des Leipziger Stadtrats.

Die Frage, wie ein solches, starkes Profil erreicht werden kann, braucht analytische Tiefe und Optimismus. Denn ich bin davon überzeugt, dass Die Linke an Stärke gewinnen kann und muss, jenseits der rein strategischen Zählfragen, die auf Regierungsfähigkeit orientieren und Die Linke zum rein funktionalen Element zwischen SPD und Grünen machen wollen.

Ja, die Wähler*innenwanderungen zur Bundestagswahl bezeugen wie schon bei der Landtagswahl 2019, dass Menschen mit ihrer Zweitstimme einerseits für einen Regierungswechsel (zur Bundestagswahl gegen die CDU), andererseits gegen eine Machtoption der AfD (Landtagswahl 2019 Schwarz-Rot-Grün = Kenia) wählen. Dies legt eine Position nahe, die auf die strategische Relevanz der LINKEN als Zünglein an der Waage von Regierungsbildungen spekuliert. Eine solche Strategie unterminiert allerdings die Arbeit am inhaltlichen und methodischen Profil. Sie degradiert damit Die Linke zum Wähler*innenverein.

Kämpfen lernen und Kämpfe verbinden

Doch Die Linke ist mehr: Sie ist Mitgliederpartei, vor allem im Osten. Sie ist die einzige Partei, die für einen Systemwechsel steht: für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft der Freien und Gleichen, für das Primat des Öffentlichen vor Privateigentum und Konkurrenzprinzip, für eine radikale Demokratisierung, für eine soziale Lösung des Klimawandels und für Solidarität. So leer diese Claims klingen, so zentral sind sie für einen alternativen Gesellschaftsentwurf, wie ihn Die Linke vertritt. Die Kunst ist, diese Prinzipien auszubuchstabieren und lebendig zu machen, im Alltag spürbar zu werden, konkrete Problemlagen aufzunehmen und mit zugespitzten Forderungen und Konzepten auf die politische Bühne zu treten: sowohl in den Parlamenten als auch mit den vielfältigen Bewegungen im parlamentarischen Raum. Als Blaupause dafür kann neben dem Mietendeckel auch die »Deutsche-Wohnen-Enteignen«-Initiative in Berlin gelten. Hier ist es im Zusammenspiel mit sozialen Bewegungen gelungen, radikale Reformideen nach vorne zu bringen. Der Kämpfe sind viele, in denen Die Linke eine verlässliche Partnerin und Akteurin ist: Arbeitskämpfe, sowohl in klassischen Industriearbeitsbereichen als auch in der Dienstleistungsbranche, Aktionen für einen klimafreundlichen und kostenfreien Nahverkehr, die breiten Bündnisse zwischen Kommunen und Zivilgesellschaft zur Aufnahme von Geflüchteten, oder das Ringen von jungen und marginalisierten Menschen um ihren Platz im öffentlichen Raum, der in hohem Maße Kommerzialisierungs- und Konformitätsdruck unterliegt.

Die Zeit der spezifisch ostdeutschen »Kümmererpartei« ist vorbei. Wir entwickeln uns weiter und unser Prinzip muss es sein, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, sie darin zu bestärken, mit uns für die Verbesserung ihrer Situation zu kämpfen. Das heißt auch, das »Kämpfen« wiederzuentdecken, heißt Lust auf Fortschritt zu machen und den Geist der Revolte und die Ästhetik des Widerstands zu leben. In unseren Offenen Büros in Leipzig praktizieren wir genau das und haben damit zum Wiedereinzug der Linken in den Bundestag maßgeblich beigetragen. Dabei heißt der Abschied vom Konzept der »Kümmererpartei« nicht, sich von konkreter Unterstützung derer, die sich (noch) nicht selbst helfen können, zu verabschieden. Auch dies muss und kann eine Linke weiter praktizieren, durch Miet- und Sozialberatungen, Spenden, Begleitung zu Behörden, Übersetzungs- oder Rechtshilfe. Dies allein macht allerdings noch keine politische Kraft aus.

Die Zukunft der Linkspartei kann nur sein, sich in der Basis auf die Seite der Marginalisierten zu schlagen, die vielfältiger nicht sein können und keineswegs auf die traditionellen Industriearbeiter*innen zu reduzieren sind. Auch sie sind es, aber es sind auch Mieter*innen, prekäre Dienstleistungsarbeiter*innen, Selbstständige, Akademiker*innen, es sind Menschen mit Migrationsbiografie in prekären Lebenslagen, Geflüchtete ohne relevante Rechte, LGBTIQ, die struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind, und Frauen, deren Position sich in diesen Zeiten wieder verschlechtert. Ihre Bedürfnisse nicht nur straight und glaubwürdig zu repräsentieren, sondern auch mit ihnen in Austausch und Kooperation zu kommen und sich als gesellschaftliche Akteurin unter vielen zu verstehen, das ist einer der Pfade in die Zukunft.

Das A und O dabei ist, die »Ungleichheitskonflikte« nicht gegeneinander auszuspielen. Mit Horst Kahrs finden diese Konflikte in drei Dimensionen statt: Auf der »Arbeitskraft-Kapital-Achse« steht die »klassische Oben-Unten-Ungleichheit«. Es geht um die »Verteilung von Einkommen, Vermögen und Bildung, Ausbeutung und Herrschaft«. Daneben gibt es Konflikte um »Diversität, Identität und Anerkennung« in der Dimension der »Wir-Sie-Ungleichheit«, sowie auf der Innen-Außen-Achse, bei der es um »Zugehörigkeiten, um Migration, um den Nationalstaat in der globalisierten Welt geht«. Diese Konflikte produktiv aufzulösen und miteinander zu verbinden, ist die Frage der Zeit.

Oder, um es konkret zu machen: Die Armutsproblematiken in marginalisierten Vierteln, wo Alters- und Kinderarmut auf den Zuzug von Geflüchteten im Sozialleistungsbezug trifft, müssen moderiert und nicht befeuert werden. Dazu können unsere Büros, Mitglieder und Hauptamtlichen entscheidende Orte und Akteure der Verständigung und Bündelung von Interessen der verschieden Ausgegrenzten sein – derer, die in verfestigten Armutslagen leben und derer, die neu in diese hineinkatapultiert werden.

Hier seien die Bemühungen von Fridays for Future als Beispiel angeführt, die Klimabewegung und Beschäftigte der Verkehrsbetriebe zusammenbringen und Kämpfe gegenseitig zu unterstützen, wie auch die Annäherung der Klimabewegung und der Beschäftigten in der Braunkohle im Kontext des Struktur- bzw. Energieträgerwandels. Last but not least sind die Organisierungsversuche von besonders prekär und vereinzelt arbeitenden, oft sehr selbstbestimmungsorientierten, bildungsbürgerlichen Menschen in der so genannten Plattformökonomie (Lieferando, Gorillas,…) konsequent zu unterstützen. Deren Belange werden von den großen Einheitsgewerkschaften bisher nicht repräsentiert.

Eine flächendeckende Präsenz der Linken vor allem außerhalb der Großstädte bleibt auch angesichts der strukturellen Schwächung der Partei eine schwere Herausforderung. Auch hier braucht es dringend Allianzen, zum Beispiel durch das Forcieren von offenen Wahllisten, deren aussichtsreiche Plätze lokalen, gesellschaftlich relevanten Akteur*innen ohne Parteibuch zur Verfügung gestellt werden, die als Botschafter*innen für soziale Ideen die vor allem kommunale Politik der Linken gestalten. Es braucht Präsenz: Zum Beispiel durch einen mobilen Tante-Emma-Dorfladen, wie es Die Linke Sachsen zur Landtagswahl erprobt hat, als Dauer-Aktion anstelle verpuffter Papier-Kampagnen. Es braucht die Bündelung der knappen Ressourcen, um auch an zentralen Orten der Landkreise offene Büros zu errichten, die nach lokalen Gegebenheiten konzeptioniert werden und vor allem auch jungen Initiativen offenstehen. Es braucht Modellprojekte in prekären Vierteln und eine konzertierte strategische Kooperation mit Arbeiter*innenvertretungen.

Letztendlich ist eine linkssozialistische Partei angewiesen auf eine starke Basisverankerung, gute Konzepte zur Umverteilung von Reichtum und der Stärkung des Öffentlichen, wie auch auf gesellschaftliche Durchsetzungsmacht. Letztere stellt sich nicht allein über Regierungsbeteiligungen her.

Auch nach außen: Glaubwürdig und an der Seite der Menschenrechte

Obwohl Außenpolitik die ganz konkreten Lebensverhältnisse vor Ort nicht unmittelbar beeinflusst, bleibt die diesbezügliche Ausrichtung einer politischen Partei für viele doch wahlentscheidend, in Bezug auf die Linke wurde sie im Bundestagswahlkampf sogar zur entscheidenden Frage stilisiert. Die Linke ist die einzige Partei, die einen dezidiert friedenspolitischen Standpunkt hat und neue außenpolitische Bündnisse fordert und auf zivile Konfliktlösungen und Abrüstung orientiert.

Dies ist völlig richtig, wichtig und sollte als Identifikationspunkt für eine humanistisch orientierte globale Politik bestehen bleiben. Die außen- und friedenspolitische Position der Linken muss allerdings dringend modernisiert und auf einen stringenten, glaubwürdigen Nenner gebracht werden. Das heißt, dass tradierter Antiimperialismus und die verstaubte Denke einer zur USA alternativen sozialistischen Gegenmacht, deren Protagonisten dann von Kritik weitestgehend ausgenommen werden, dringend einer Generalkritik unterzogen gehört.

Zum Beispiel wenn Menschenrechtsverletzungen und massivste Ausbeutung durch den »großen Bruder« China unerwähnt bleiben und in verstaubter Manier ein Sozialismus projiziert wird, mit dem es sich gegen die USA zu verbünden gilt, anstatt den brutalen repressiven chinesischen Turbokapitalismus zu erkennen und zu kritisieren. Oder wenn auf allen Ebenen und Bühnen die Freundschaft mit Russland zelebriert und für eine Entspannung mit der Supermacht plädiert wird, während sich Genoss*innen völlig zurecht gegen Menschenrechtsverletzungen und Despotie unter Putin engagieren. Auch der folkloristische Schulterschluss mit Maduro in Venezula verkennt, dass dort linke Basisbewegungen platt gemacht werden, die Gesellschaft trotz Ölrente in Armut versinkt und außenpolitisch mit dem Iran gekuschelt wird.

Die derzeitige Linke Außenpolitik legt doppelte Standards an und macht sich damit unglaubwürdig. Die Linke braucht eine zeitgemäße Friedenspolitik, die sich sowohl von DDR-Traditionen als auch westlich gefärbtem Antiamerikanismus verabschiedet. Die Linke muss eine glaubwürdige außenpolitische Position entwickeln, die etwa bei Menschenrechten universalistisch argumentiert und konsequent und unmissverständlich Abstand von Staaten und Machthabern nimmt, die das nicht gewährleisten – auch im Gegensatz zur Rhetorik und Praxis der amtierenden Bundesregierung. Die inke muss sich dabei auch mit der Frage auseinandersetzen, welche Strategien es gegen islamistische Terrorregime gibt, die eine fundamentale Bedrohung nicht in erster Linie des »Westens« sondern der Würde und Freiheit von Menschen sind. Auf Ursachen zu verweisen ist auch hier notwendig, aber keine praktikable Antwort.

Die Linke braucht eine Selbstjustierung, programmatisch, methodisch und strategisch. Faule innerparteiliche Kompromisse, wie sie die jüngere Geschichte der Linken prägen, und zu einem inkonsistenten Bild der Linken führen, dürfen diesen Prozess nicht prägen.

Wir sollten die Zeit nutzen. Es ist dringend und existentiell.

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