Wer jetzt kein Haus hat

Housing First gibt Menschen auf der Straße das, was sie am dringendsten benötigen: ein Zuhause. In Berlin soll das Projekt fortgesetzt werden

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer jetzt kein Haus hat - der braucht nicht unbedingt eines bauen, aber zumindest eine Wohnung. Obdachlosigkeit geht weit über das hinaus, was der Dichter Rainer Maria Rilke in seiner süßlichen Schwermütigkeit beschwor, als er im Gedicht »Herbsttag« vor über 120 Jahren über den Übergang vom Sommer zur kalten, dunklen Jahreszeit schrieb, dass, »wer jetzt allein« sei, es »lange bleiben« und »in den Alleen hin und her unruhig wandern« werde. Keine Wohnung zu haben, in die man gehen kann, ob zum Essen, Schlafen, Sich-Waschen, ist, egal zu welcher Jahreszeit, eine existenzielle Notsituation.

»Obdachlosigkeit ist kein Naturphänomen«, sagt Sebastian Böwe. Er ist für die Wohnraumakquise bei Housing First Berlin verantwortlich, einer Projektpartnerschaft der Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH. »Seit 20 Jahren suche ich Wohnungen für Menschen, die keine kriegen«, erklärt er dem »nd«. 700 Trägerwohnungen habe er in dieser Zeit anmieten können - »das ist für Berlin und seinen Wohnungsmarkt nicht schlecht«, meint Böwe, der mit seinen Erfahrungen und Netzwerken seit 2018 für das Projekt tätig ist.

Der Berliner Senat hat das dreijährige Vorhaben, Menschen, die in der Hauptstadt auf der Straße lebten, mit Hilfe einer Wohnung in eine stabilere, soziale Lebenssituation zu bringen, bislang finanziert.

42 Wohnungen konnten in der Modelllaufzeit an obdachlose Menschen mit eigenem Mietvertrag vermittelt werden; 44 Personen wurden insgesamt ins Projekt aufgenommen. Aktuell werden im Projekt 38 Menschen betreut, darunter zehn Frauen. Der Sozialdienst katholischer Frauen betreibt ein weiteres Housing-First-Modellprojekt, in dem bisher 41 Frauen eine eigene Unterkunft erhalten haben. Insgesamt sind laut der Sozialverwaltung des Senats damit 83 Personen zu einer Wohnung und aus der Obdachlosigkeit heraus gekommen - Tendenz steigend. Die Bilanz von Sebastian Böwe und seinen Kolleg*innen ist klar: »Betroffene mit schwerwiegenden Problemen, die teilweise jahrelange Obdachlosigkeit erlebt hatten, konnten ihrem Leben mit der Unterstützung von Housing First Berlin eine positive Wendung geben. Sie haben sich eine Existenz in eigenen vier Wänden geschaffen und das trotz oft vorhandener psychischer Erkrankungen oder Suchtproblemen«.

Der Schlüssel zum Erfolg, sagt Böwe, sei die mit einer zur Verfügung stehenden Wohnung einhergehende sozialarbeiterische Betreuung - »so lange und so oft die Menschen es brauchen«. So gut wie niemand, der lange auf der Straße gelebt habe, könne allein wieder von jetzt auf gleich ein »normales« Leben führen. »Neben mehr Wohnungen brauchen wir deshalb auch mehr Sozialarbeit und mehr Straßensozialarbeit, wie sie von der Stadtmission und dem Verein Gangway durchgeführt werden.«

Befürchtungen von Vermieter*innen, dass mit der Bereitstellung von Wohnungen die Gefahr von Vandalismus, Mietschulden oder Lärmbelästigung einher gehe, kann Böwe aus seiner langjährigen Tätigkeit nicht bestätigen. »Einmal mussten wir 500 Euro Mietschulden übernehmen, weil jemand ausgezogen war, ohne Bescheid zu sagen« - der »Worst Case«, so Böwe.

Die Idee von Housing First kommt aus den USA, wo zunächst im kalifornischen Los Angeles seit dem Ende der 1980er Jahre erprobt wurde, wie eine eigene Wohnung als erster Schritt zur sozialen Reintegration von Obdachlosen wirkt.

Der große Erfolg des in der Zwischenzeit auch weltweit zum Tragen gekommenen Ansatzes hat es zwar in keiner Hinsicht vermocht, Obdachlosigkeit abzuschaffen, aber am Beispiel von Finnland hat sich gezeigt, dass es gelingen kann, sie so deutlich zurückzudrängen, dass das EU-weit ausgegebene Ziel, bis 2030 Obdachlosigkeit im Schengenraum zu beenden, zumindest in dem skandinavischen Land realistisch erscheint. Allerdings wird hier das Konzept schon seit mehr als 30 Jahren umgesetzt. Das Modellprojekt in Berlin hingegen war bundesweit das erste seiner Art.

Schwerpunkt der staatlichen Obdachlosenhilfe in der Hauptstadt ist derzeit neben dem Ausbau der klassischen Notübernachtungen, die ab November von 1000 um 200 aufgestockt werden sollen, die Unterbringung in sogenannten 24/7-Unterkünften. Hier müssen die Menschen nicht, wie in der traditionellen Kältehilfe, nach dem Frühstück wieder zurück auf die Straße. Im vergangenen Winter standen einmalig mehr als 500 solcher Plätze zur Verfügung. Unter anderem in einer Jugendherberge, die im Lockdown schließen musste. Bis 2023 sollen laut Senatssozialverwaltung drei Unterkünfte nach dem 24/7-Modell mit 11,4 Millionen Euro aus EU-Mitteln zur Bewältigung der Coronakrise finanziert werden. Ein ehemaliges Hostel am Halleschen Ufer werde nur Frauen aufnehmen, so Sprecher Stefan Strauß.

Eine Entwicklung, über die die Mitarbeitenden der Berliner Stadtmission sehr froh sind. »24/7-Einrichtungen sind ein erster großer Schritt auf dem richtigen Weg«, so die Sprecherin des kirchlichen Sozialverbands, Barbara Breuer. Neben Unterkunft und Versorgung werden in diesen Einrichtungen auch psychologische Hilfe und Sozialberatung angeboten. »Von den Hilfesuchenden wird dort allerdings auch erwartet, dass sie sich aktiv einbringen«, erklärt Breuer. Wenn Menschen zur Ruhe kämen, es regelmäßige Mahlzeiten gebe und medizinische Versorgung, seien Gespräche über Lebenssituationen deutlich leichter möglich - und damit auch eine Perspektive jenseits der Straße. »Da tauchen plötzlich andere Fragen auf«, schilderte die Sprecherin der Stadtmission. Ihr sei von alkoholkranken Obdachlosen berichtet worden, die Sozialarbeiter über Jahre hinweg nie nüchtern erlebt hätten. »Und dann - in dieser neuen Situation - lassen sie plötzlich das Trinken.«

Ruhe, Regelmäßigkeit und Unterstützung sind auch die Kriterien, nach denen Housing First das Leben ehemaliger Obdachloser positiv beeinflusst. Auch die Sozialverwaltung betrachtet die bisherige Vermittlung als Erfolg, gerade auf dem mehr als angespannten Berliner Wohnungsmarkt. Daher müsse dieser Weg auch konsequent weiterverfolgt werden, sagt Strauß. Nach Berechnungen der Verwaltung seien dafür in den kommenden Jahren 1,3 Millionen Euro nötig. Das Projekt laufe vorerst noch bis zum Ende des ersten Quartals 2022 weiter.

Apropos Verwaltung: Noch immer scheitere manche Kostenübernahme an zu langsamen Verwaltungsvorgängen, kritisiert Sebastian Böwe. Es mangele an Sensibilität für die Menschen auf der Straße. Wenn jemand in einer Bushaltestelle leben müsse, könne man nicht zwei Wochen damit verbringen, auf ein Formular zu warten. »Bei Obdachlosigkeit muss eine rote Lampe angehen«, fordert der Housing-First-Experte.

»Wenn Politik, Immobilienwirtschaft, Soziale Träger und Verwaltung an einem Strang ziehen, lässt sich Obdachlosigkeit dauerhaft und nachhaltig beseitigen«, ist sich Böwe sicher. Auf der Housing-First-Warteliste stünden noch viele Menschen, die ihre Chance gern ergreifen möchten. Eine Weiterfinanzierung sei zugesichert, eine Verdopplung des Projekts mit einem zweiten Standort überdies beantragt. Ob es eine Finanzierung für den Ausbau über den März 2022 hinaus gibt, hängt jetzt von den Entscheidungen des neuen Berliner Senats ab.

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