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Orte mit vielen Fragezeichen
Die Nichtaufklärung im NSU-Komplex zieht sich durch alle involvierten Bundesländer. Eine Beispielsammlung
Die Neonazi-Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) ermordete in den Jahren 2000 bis 2007 Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Hinzu kamen mindestens drei Sprengstoffanschläge, zwei in Köln und einer in Nürnberg, und mindestens 15 Raubüberfälle. Dutzende Menschen verletzte der NSU körperlich und seelisch, einige davon schwer.
Am 4. November 2011 enttarnte sich der NSU: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt töteten sich selbst, nachdem sie nach einem Banküberfall in Eisenach von der Polizei entdeckt worden waren. Beate Zschäpe zündete die gemeinsame Wohnung des Kerntrios in Zwickau an und verschickte vorbereitete Umschläge mit einem Bekennervideo. Die Täter*innen des NSU hatten also selbst entschieden, unter welchen Umständen sie sich zu ihren Taten bekennen würden, und für diesen Fall Vorkehrungen getroffen.
Das bundesweite antifaschistische Netzwerk NSU-Watch gründete sich unter dem Eindruck dieser Ereignisse. Wie der größte Teil der Gesellschaft hatten auch Antifaschist*innen die Morde und Anschläge des NSU nicht als rassistische Taten erkannt, hatten die Hinweise von Angehörigen und Überlebenden auf ein mögliches rassistisches Motiv nicht wahrgenommen. Stattdessen wurden die Betroffenen von der Polizei mit rassistischen Ermittlungen traktiert, und die Presse verbreitete Gerüchte über sie.
NSU-Watch beobachtete diverse Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Ländern sowie den Münchener Prozess, veröffentlicht Protokolle, Berichte und eigene Analysen zum NSU-Komplex und zu rechtem Terror. Anlässlich des Jahrestages der Selbstenttarnung gehen wir für »nd.DieWoche« auf einige offene Fragen ein. Angesichts der Größe des NSU-Komplexes kann dies keine abgeschlossene Liste sein. Es handelt sich um Beispiele aus verschiedenen Städten und Bundesländern. An diesen zeigt sich, dass die Aufklärung unvollständig ist. Sie wurde - wie so oft in der Geschichte rechten Terrors in der Bundesrepublik - verschleppt oder gar verhindert. Wir finden es aber wichtig, sich dem nicht ohnmächtig zu ergeben. Unter den NSU-Komplex darf kein Schlussstrich gezogen werden. Vor allem weil aus all dem, das wir trotzdem seit 2011 erfahren und gelernt haben, viel zu selten politische und gesellschaftliche Konsequenzen gezogen wurden.
Sachsen/Bayern: V-Mann »Primus«
Mitten im NSU-Komplex steht die Frage nach der Rolle des ehemals in Zwickau wohnhaften Neonazis Ralf Marschner, der unter dem sprechenden Decknamen »Primus« Informant des Bundesamtes für Verfassungsschutz war, ursprünglich jedoch vom bayerischen Verfassungsschutz angeworben worden sein soll. Marschner war eine zentrale Figur in der sächsischen, insbesondere der Zwickauer Neonazi-Szene, im Rechtsrock-Business aktiv und betrieb Szeneläden. Er hatte beste Verbindungen in die bayerische, vor allem die Nürnberger Neonazi-Szene. Die Rolle Marschners war bei der staatlichen Aufarbeitung des NSU-Komplexes lediglich am Rande Thema. Der zweite Untersuchungsausschuss im Bund erhielt vom Verfassungsschutz nur zögerlich Akten zu Marschner, konnte in seinem Bericht aber trotzdem feststellen: »Der Untersuchungsausschuss geht davon aus, dass Marschner Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe kannte.«
Im Münchner Prozess ging es in einem - später vom Senat abgelehnten - Antrag der Nebenklage unter anderem darum, dass Marschner mindestens Uwe Mundlos unter dessen Aliaspersonalien in seiner Zwickauer Baufirma in den Jahren 2000/2001 beschäftigt habe. Im Zusammenhang mit Marschner spielen auch Autoanmietungen über seine Firma jeweils zum Zeitpunkt der Morde an Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü und Habil Kılıç eine Rolle. Für diese Taten im Jahr 2001 gab es keine Autoanmietungen unter den bekannten Aliasnamen des NSU.
Ralf Marschner ist zudem ein Beispiel dafür, wie Verharmlosung, Straf- und Konsequenzlosigkeit Neonazi-Täter*innen dazu ermutigen, weiterzumachen. Am 3. Oktober 1999 ermordeten Neonazis im zwischen Chemnitz und Zwickau gelegenen Hohenstein-Ernstthal den 17-jährigen Patrick Thürmer, der auf dem Heimweg von einem Punkfestival war. Marschner warnte, wie sich später herausstellte, wenige Stunden nach der Tat den Haupttäter telefonisch vor Ermittlungen der Polizei. Das gegen Marschner eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung endete, wie weitere gegen ihn, ergebnislos.
Nürnberg: Der vergessene »Taschenlampenanschlag«
Am 23. Juni 1999 wurde Mehmet O. beim heute so genannten Taschenlampenanschlag des NSU in seiner frisch eröffneten Gaststätte »Sonnenschein« in Nürnberg verletzt. Von dem Sprengstoffanschlag gegen ihn erfuhr die Öffentlichkeit erst 2013 durch eine Andeutung des Angeklagten Carsten Schultze bei dessen Aussage im Prozess. Am 6. April 2019 schilderte Mehmet O. seine Erlebnisse bei einer Veranstaltung in München: Zwei Wochen lang hatte er jeden Winkel des Ladens für die Eröffnung vorbereitet, die ein voller Erfolg wurde. Beim Aufräumen am nächsten Morgen bemerkte O. im Herren-WC der Gaststätte hinter dem Mülleimer eine große Taschenlampe. Aus Neugier drückte er den Knopf. Die Taschenlampe war eine Rohrbombe und explodierte. Mehmet O. wurde von einem Ende des Lokals bis kurz vor die Eingangstür geschleudert. Dass er überlebte, verdankt er nur einem technischen Fehler bei der Bombenkonstruktion.
Die Anklage im Münchner Prozess wurde nicht mehr um diesen Anschlag erweitert. Es gibt also bisher keine juristische Aufarbeitung dieses Attentats, und in der Öffentlichkeit ist der Anschlag immer noch zu wenig bekannt. Es gibt bislang auch keine Gerechtigkeit für den Geschädigten Mehmet O. Zu diesem Attentat sind bezüglich Tatortauswahl, -ausspähung und möglichen (Mit)Täter*innen oder Mitwisser*innen noch alle Fragen offen. Untersucht werden muss auch das polizeiliche Handeln oder Nichthandeln nach 1999 und nach 2011. Wieso etwa legte die Polizei 2011 dem Geschädigten nahe, mit niemandem über den Anschlag zu reden? Warum hätte dies die Ermittlungen stören sollen?
Thüringen/Bayern: »Drilling«
Seine Operation zur Beschaffung von Informationen über die abgetauchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt nannte der Thüringer Verfassungsschutz »Drilling«. In ihrem Plädoyer im Prozess stellte Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens fest, dass sich in der zugehörigen Akte Erkenntnisse von sechs menschlichen Quellen finden, deren Identität bekannt geworden war, sowie von weiteren drei beziehungsweise vier Quellen, deren Identität während der Beweisaufnahme noch nicht bekannt war und die deshalb nicht als Zeugen zur Verfügung standen. Es handele sich unter anderem um eine bayerische Quelle, von der noch nicht einmal ein Deckname genannt worden sei: »Diese Quelle wurde ebenfalls nach deren Abtauchen zu den dreien befragt und gab an, Mundlos sei ihr ›bekannt‹ und habe ›gute Kontakte‹ zu Ernst Tag gehabt, der als Fluchthelfer in Betracht komme.« Ernst Tag war ein damals ein bundesweit agierender Neonazi. Wie nah die unbekannte bayerische Quelle Mundlos vor dem Abtauchen stand und was sie alles über ihn wusste, sei nicht bekannt, so von der Behrens.
In Bayern wurden fünf der zehn NSU-Morde verübt. Der Untersuchungsausschuss des Landtags endete bereits kurz nach Beginn des Prozesses im Jahr 2013; in dem Bundesland blieb besonders viel unklar. Allein zu dieser einzelnen V-Person ergeben sich diverse Fragen: Wer ist diese Person, wo sind die Treffberichte und sonstigen Unterlagen? Warum hat der bayerische Verfassungsschutz das Material dem bayerischen Untersuchungsausschuss nicht zur Verfügung gestellt? Warum sagten die aus bayerischen Behörden geladenen Zeug*innen hierzu nichts aus?
Berlin: Zu Unrecht unterbelichtet
Notorisch unterbelichtet in Bezug auf den NSU-Komplex ist die Hauptstadt. Dabei gibt es unter anderem starke Hinweise, dass der NSU die Synagoge in der Berliner Rykestraße ausspähte und dabei von lokalen Neonazis unterstützt wurde. Das Berliner LKA führte zudem den Neonazi Thomas Starke, der dem Kerntrio vor dessen Abtauchen Sprengstoff lieferte, als Vertrauensperson. Überhaupt wäre die kritische Beschäftigung mit dem Umgang der Berliner Behörden, insbesondere des LKA, mit der Nazi-Szene eine vielversprechende Aufgabe. So fehlt etwa bisher ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum rechten Terror im Süden Berlins, dem sogenannten Neukölln-Komplex.
Nürnberg: Die Presse erschwerte die Aufklärung
Vor November 2011 berichteten Journalist*innen zwar häufig über die damals als »Ceska-Morde« bekannte Serie. Durch ihre Berichterstattung wurde die Aufklärung der Mordserie jedoch nicht vorangetrieben, sondern erschwert. Unhinterfragt wurden die rassistischen Gerüchte der Polizei über die Betroffenen verbreitet und durch eigene »Informant*innen« gar noch weitergetrieben. Anstatt bei einer Mordserie an neun Menschen mit Migrationsgeschichte an einen rechten Hintergrund auch nur zu denken, prägte die »Nürnberger Zeitung« den rassistischen Begriff der »Döner-Morde«, der ab 2005 von zahlreichen Medien übernommen und auch in den ersten Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU weiter verwendet wurde.
Kassel: »Kein 10. Opfer!«
Angehörige der Ermordeten und ihr Umfeld organisierten nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat im Frühjahr 2006 Demonstrationen in Kassel und Dortmund, an denen mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Sie forderten: »Kein 10. Opfer!« Und sie verlangten ernsthafte Ermittlungen in Richtung eines rechten Motivs. Ein Vertreter der Stadt Kassel sagte zu den Demonstrierenden in Kassel: »Ich weiß, dass bei Ihnen eine große Verunsicherung stattfindet, weil es eine ganze Reihe von Gerüchten gibt, die ausländerfeindliche Hintergründe vermuten lassen, für die aber keinerlei Beleg da ist.« Die Mehrheitsgesellschaft und auch Antifaschist*innen nahmen diese Demonstrationen, die Forderungen und das Wissen der Angehörigen nicht wahr und taten nichts, um die Ermittlungen.
NSU-Watch beschäftigt sich mit der Aufklärung des NSU-Komplexes und von rechtem Terror, beobachtete und dokumentierte den Münchner NSU-Prozess und Untersuchungsausschüsse, seither außerdem diverse Prozesse und Ausschüsse zu anderen rechten Taten. Für diese Arbeit ist NSU-Watch auf Spenden angewiesen: www.nsu-watch.info/nsu-watch/spenden
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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