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  • Verkehrswende in Berlin

Tram-Offensive für Adlershof

Erste Straßenbahn-Neubaustrecke unter Rot-Rot-Grün nimmt den Betrieb auf

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.
"Tschüss Tatra" - die neuen Linien sind nur eine kleiner Beitrag zur anvisierten Verkehrswende.
"Tschüss Tatra" - die neuen Linien sind nur eine kleiner Beitrag zur anvisierten Verkehrswende.

Wenige Meter nach dem Start der Premierenfahrt der Straßenbahn ab der Haltestelle Karl-Ziegler-Straße gen Schöneweide ist am Samstagvormittag erst mal Schluss. Die Ampel verweigert beharrlich die Freigabe für die Straßenbahn. Nach ein paar Minuten fällt die Entscheidung: Der Zug wird vom Tram-Betriebsleiter der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) persönlich über die kaum befahrene Kreuzung geleitet. Auch weitere Ampeln auf der Strecke müssen von der parallel zum Zug im Auto fahrenden Betriebsaufsicht per Schlüsselschalter zur Kooperation gebracht werden.

Die Eröffnung der 2,7 Kilometer langen Neubaustrecke zwischen der ehemaligen Endhaltestelle Karl-Ziegler-Straße in der Wissenschaftsstadt Adlershof und dem S-Bahnhof Schöneweide am Samstag führt so ungewollt noch einmal die Probleme vor Augen, die Berlin bei der zügigen Umsetzung der Verkehrswende im Allgemeinen und dem Ausbau der Straßenbahn im Speziellen hat.
Da ist einmal das weit hinter den Vorgaben des rot-rot-grünen Koalitionsvertrages zurückbleibende Umsetzungstempo. Vier Straßenbahnprojekte hätten bis Ende der Legislaturperiode fertig sein müssen, nun ist fünf Tage vor der Konstituierung des neuen Abgeordnetenhauses eines fertig geworden und eines ist im Bau: vom Hauptbahnhof zur Turmstraße. Fünf weitere Strecken sollten bereits in der Bauphase sein, doch nicht einmal die Planung ist fertig. Seit Jahren erklärt die scheidende Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) mantraartig, dass die Ziele unrealistisch waren und ein Straßenbahnprojekt vom Planungsbeginn bis zur Eröffnung acht Jahre benötigt. Doch irgendwoher müssen die Koalitionspartner ja 2016 die Zuversicht gehabt haben, dass der Plan, der Beobachtern schon damals äußerst ambitioniert schien, realisierbar sei.

Das andere Problem ist die Art der Umsetzung nicht nur von Straßenbahn-Neubaustrecken. Vom Bahnhof Schöneweide entlang des Groß-Berliner Damms braucht die neue Tram fahrplanmäßig deutlich mehr Zeit als der bisher dort verkehrende Bus – weil die Ampeln entgegen den Vorgaben des Mobilitätsgesetzes dem Schienenverkehrsmittel eben keinen Vorrang einräumen. Auch an vielen anderen Stellen in der Stadt, wie am S-Bahnhof Karlshorst, müssen sich Straßenbahnen hinten anstellen, was für minutenlange Verzögerungen sorgt. »Die Senatorin hat bis heute nicht verstanden, dass viele Bremser in ihrer eigenen Verwaltung sitzen«, macht sich ein Insider bei der Eröffnung Luft.

Just an der Problemampel, die am frühen Nachmittag wieder zum Laufen gebracht wird, haben sich einige Aktivisten der Naturfreunde Berlin mit einem Banner postiert. Sie fordern mehr Tempo beim Straßenbahnausbau. »2,7 Kilometer Straßenbahn in fünf Jahren sind nicht genug«, sagt eine Aktivistin gegenüber dem »nd«. »Die Verwaltung hat die Strecke nicht nach den Vorgaben der Senatorin geplant, sondern möglichst die Interessen der Autofahrer berücksichtigt«, ergänzt ein weiterer Mitstreiter.
Dennoch ist auch viel Freude zu spüren, dass die 40 Millionen Euro teure Strecke mit fünf neuen Haltestellen nun fertig ist. Werktags bis zu alle fünf Minuten werden die Linien M17 und 61 auf der ganzen Strecke zwischen Adlershof und Schöneweide fahren, die 63 von Adlershof bis Landschaftspark Johannisthal. Rund 12 700 Passagiere täglich werden erwartet.

Senatorin Günther nennt die Inbetriebnahme einen »Meilenstein der Verkehrswende«, das Wort Tram stehe für auch für »Transformation in Richtung einer anderen Mobilität«. Die reine Bauzeit der Strecke war mit 17 Monaten überschaubar. »Geplant wurde sie viel länger«, räumt Regine Günther ein. Es werde eine »große Herausforderung, die Prozesse zu prüfen, ob vielleicht die Planung noch beschleunigt werden kann«.
Der nach den deutschen und Berliner Sparjahrzehnten leer gefegte Planermarkt sorgt dafür, dass dort nun viele unerfahrene Menschen tätig und die externen Büros überlastet sind. Die BVG muss immer wieder Planunterlagen zum Teil mehrfach zur Überarbeitung zurückgeben. Wegen fehlerhafter Lärmgutachten mussten bei den Projekten Turmstraße sowie der Verlegung der Linie 21 zum Bahnhof Ostkreuz die Unterlagen im Planfeststellungsverfahren erneut ausgelegt werden. Bei letzterem müssen sie der Öffentlichkeit nun sogar ein drittes Mal zur Einsichtnahme vorgelegt werden, weil ein beauftragtes Büro versehentlich nicht alle Unterlagen auf der entsprechenden Internetseite hochgeladen hatte, wie die Verkehrsverwaltung vor zwei Wochen bekanntgab. Das Endlos-Verfahren mit bereits über 1000 Einwendungen verlängert sich so um weitere zwei bis drei Monate.

BVG-Chefin Eva Kreienkamp hebt hervor, dass es gelungen sei, die Straßenbahn schon vor Abschluss der Wohn- und Gewerbebebauung zu eröffnen. »Wenn sie da nicht öffentlich hinkommen, haben sich die Leute schon am ersten Tag für etwas anderes entschieden«, so Kreienkamp. Deswegen müsse der ÖPNV schon mitgedacht werden, wenn neue Quartiere entstehen. »Wir wollen insgesamt auch mehr Beschleunigung für den ÖPNV«, fordert sie echten Vorrang vor dem Autoverkehr ein.

Noch nicht in Betrieb sind die erstmals bei der Berliner Straßenbahn eingebauten Schienenschmieranlagen, die das Quietschen der Züge in engen Kurven verhindern soll. In den nächsten zwei Wochen sollen sie jedoch den Dienst aufnehmen, so das Versprechen.
Die Anwohner der neuen Strecke wirken durchaus angetan. Auf vielen Balkons und in Fenstern sind Schaulustige zu sehen, die den Betrieb mit Handys dokumentieren, die Züge sind nach Aufnahme des Fahrgastbetriebs gegen 13.30 Uhr voll – nicht nur mit Fans, sondern mit einkaufstütenbeladenen Menschen. Auch die Nostalgie kommt nicht zu kurz. Mehrere historische Gelenkzüge vom seit Mitte der 70er Jahre gelieferten Typs KT4 des tschechoslowakischen Herstellers Tatra sind unterwegs, im rot-beigen Originallack des Herstellers, im orange-weißen sogenannten Hauptstadtlack der 80er Jahre sowie in der gelben BVG-Lackierung, wie sie bis Mai 2021 im Fahrgasteinsatz waren.
Auf dem Groß-Berliner Damm fuhren zwischen 1953 und 1959 übrigens schon einmal Straßenbahnen, allerdings nur im Berufsverkehr auf der Linie 91E. Die eingleisige Strecke band das Werk Johannisthal des DDR-Schienenfahrzeugherstellers Lowa an das Berliner Straßenbahnnetz an.

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