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  • »Vor Sonnenaufgang«

Selbst zur Hölle werden

Ewald Palmetshofers Drama »Vor Sonnenaufgang« ist am Hans-Otto-Theater in Potsdam zu sehen

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Kanon wird oft als Schatz verstanden, als eine Art Fundament, auf dem die Literatur gründet, mit dem sich die gebildeten Schichten identifizieren und von dem sie ihre ästhetischen Vorstellungen ableiten. Freilich ist diese Vorstellung überkommen, sie wird nur noch von jenen Resten eines klassischen Bildungsbürgertums vertreten, dessen Niedergang auch den des Kanons selbst bedeutet. Ein Niedergang allerdings nicht in die Bedeutungslosigkeit, der Kanon wird nicht zu den Akten gelegt, sondern steht als Kampfbegriff immer wieder zur Disposition. Nicht um seine Abschaffung geht es, sondern um eine Neuerfindung. Wer sich progressiv gibt, fordert mehr Frauen, mehr Nichtweiße, mehr Diversität. Nicht das Tradierte soll der Gegenwart Orientierung bieten, die Vergangenheit wird dieser Tage durchforstet nach Stoffen, die den politischen und kulturellen Zeitgeist bestätigen.

Was aber tun mit dem irren Frauenmörder Woyzeck, mit der naiv-devoten Emilia Galotti oder dem antisemitisch gezeichneten Shylock? Auf die Müllkippe mit ihnen, fordern die einen, während andere das brisante Material aufarbeiten und in einem Zwischenlager unterbringen. Theatermacher wie Simon Stone und Ewald Palmetshofer dichten kanonische Stücke neu und verlegen ihre Handlungen in die Gegenwart. Die problematischen Anteile dieser Stücke lassen sie weg. Stone und Palmetshofer waren beide am Theater Basel tätig, weshalb das Konzept, das nicht neu ist, aber sich in den letzten Jahren wieder größerer Beliebtheit erfreute, »Basler Dramaturgie« genannt wurde. Ein wenig handelt es sich dabei auch um ein Marketingkonzept, bietet die Neudichtung eines Stücks dem Publikum doch die Möglichkeit, einen klassischen Stoff zu sehen, ohne die Anstrengung einer Transferleistung auf sich nehmen zu müssen.

Auch ein Gerhart Hauptmann lässt sich so ohne große Mühe konsumieren und - noch wichtiger - auch ohne schlechtes Gewissen, was bei Hauptmann nicht selbstverständlich ist. Der Literaturnobelpreisträger war im Gespräch für das Amt des Weimarer Reichskanzlers, ließ sich aber später auch nur allzu gern von Nazigrößen wie Baldur von Schirach hofieren. Kein satisfaktionsfähiger Klassiker also für eine Gegenwart, die nicht mehr an die Trennung von Urheber und Werk glaubt. Alfred Kerr tritt als Zeuge der Anklage auf. Der legendäre Kritiker schrieb aus dem Exil über den früheren Freund und Protegé: »Dornen sollen wachsen, wo er noch hinwankt. Und das Bewusstsein der Schande soll ihn würgen in jedem Augenblick. Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden.«

Diese Ehre sucht Palmetshofer wiederherzustellen mit seiner vielgespielten Neufassung des Klassikers »Vor Sonnenaufgang«, das in der Reithalle des Potsdamer Hans-Otto-Theaters am Freitag zur Premiere kam. Das naturalistische Original aus dem Jahr 1889 porträtiert eine Bauernfamilie, die mit Glück zu Geld kam und doch nicht glücklich sein kann. Der Alkoholismus grassiert, die Moral verlottert, die Dekadenz frisst Löcher in die Seelen. Ein Jugendfreund des Hausvorstands platzt in die familiäre Einöde. Alfred Loth ist sozialrevolutionär gestimmt und will die Situation der Arbeiter in der Region erforschen und verbessern. Ein Held sieht aber anders aus. Erst verdreht er der Schwägerin des Hausvorstands den Kopf, lässt sie dann aber sitzen, weil er fürchtet, auch sie werde eines Tages an der Flasche hängen. Das Stück endet - typisch Kanon! - mit dem Selbstmord einer Frau.

Palmetshofer greift sich die Namen und die Grundstruktur heraus. Der Alkohol spielt auf der Potsdamer Bühne aber nur eine Nebenrolle, psychische Probleme rücken in den Vordergrund. Helene (Alina Wolff) ist allzu sprunghaft und nicht fähig, für sich selbst zu sorgen. Patriarch Krause (Jörg Dathe) dürfte nicht unschuldig daran sein, er fummelt bei jeder Gelegenheit verdächtig an seiner Tochter herum. Auch Thomas wirft ein Auge auf seine Schwägerin. Er hat in die Familie eingeheiratet, die Firma übernommen und scheint nun ein wenig darunter zu leiden, dass da nichts mehr zu erobern ist. Den Mangel kompensiert er politisch, seine Partei hetzt gegen weniger Privilegierte. Paul Wilms gibt den Thomas als schwermütigen Yuppie, er schlufft über die Bühne, nippt gedankenverloren am Champagnerglas, als fragte er sich, wann sich denn endlich so etwas wie Zufriedenheit einstellt.

Man möchte nur ungern bei dieser schrecklich schrecklichen Familie zu Abend essen, der linke Journalist Alfred Loth sitzt dennoch bald am Tisch. Plötzlich steht Thomas’ alter Studienfreund vor der Tür der Krauses. Was will er? Die gut zweistündige Aufführung (eine Pause) lässt mit einer Antwort auf sich warten, wie Regisseurin Marlene Anna Schäfer sich ohnehin viel Zeit lässt. Nicht selten starren die Schauspieler Löcher in die Luft, ohne dass dadurch mehr erzählt würde, als man ohnehin schon weiß: Alle leiden hier an etwas, an sich, aneinander, und kriegen es nicht hin, sich zu erklären. »Wie lange, glaubst du, driften wir noch auseinander, bis wir uns nicht mehr hören können, wenn wir sprechen?«, fragt Loth endlich seinen alten Freund, dessen Werdegang ihm unverständlich ist. Sie waren sich doch mal ähnlich, und nun, nur ein paar Jahre später blicken sie völlig anders auf die Welt. Thomas: ein Zyniker und Snob, Alfred: ein Idealist und Weltverbesserer. Was ist geschehen?

Als soziales Drama bezeichnete Hauptmann sein Stück, Palmetshofer folgt diesem Motto, allerdings spürt er keinem Klassenkonflikt nach, sondern horcht auf kommunikative Störungen in der Gesellschaft. Alfred und Thomas können einander nicht mehr verstehen, bleiben sich fremd, aller gemeinsamer Erinnerungen zum Trotz. Auch die Familie kann nicht miteinander reden. Ein Dialog führt hier nur dann nicht zu einem Streit, wenn einer lügt oder zumindest etwas verschweigt. Offenheit wird mit Übergriffigkeit und Verletzung bestraft. Wenn Hauptmann ein Milieu beschreibt, geht es Palmetshofer um das Individuum, das am Kontakt zu anderen scheitert. Seine Sätze sind oft abgehackt, klingen künstlich, als wäre das Sprechen für diese Menschen keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Anstrengung, eine Art Tradition, die weiterzuverfolgen von ihnen verlangt wird, ohne dass sie selbst wüssten, was daran nützlich wäre.

Am Anfang leuchtet eine Erdkugel über der Bühne, als Mahnung hängt sie den Rest des Abends über der Familie. Darunter kommen die Figuren an einem runden Wasserbecken zusammen, in dem sich die Lamellen der Rückwand spiegeln. Kalt, modern und teuer wirkt dieses Gefängnis. Für Helene scheint es kurz einen Ausweg zu geben, sie verliebt sich in Alfred, der aber, abgeschreckt von der psychischen Zerrüttung der Familie, bald wieder das Weite sucht. Mit seiner Menschenfreundlichkeit ist es also nicht so weit her, dass er ein Risiko eingehen würde. Wenigstens sterben muss Helene an diesem Abend nicht, wie Hauptmann es vorsah. Das wäre auch nicht besonders gegenwärtig, der unglückliche Mensch von heute, so darf man Palmetshofer verstehen, beendet nicht die eigene Existenz, sondern macht lieber den anderen das Leben zur Hölle.

Nächste Vorstellungen: 5., 18., 19. und 20.11.

www.hansottotheater.de

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