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Zuschauerreihen zu Fluchtrouten
Zwischen Europa und globalem Süden: Beim Festival Kosovo Theatre Showcase zeigten einheimische und internationale Theatermacher Produktionen zu Krieg, Migration und westlicher Doppelmoral
Geflüchtete können ein Hebel im aktuellen Subventionskapitalismus sein. Auf diese schrille Komponente weist der kosovarische Dramatiker Jeton Neziraj in seinem Stück »A.Y.L.A.N« hin. Neziraj kennt sich aus mit dem Subventionskapitalismus. Der Kosovo ist eine Art Förderparadies der westlichen Nationen, mit all dessen Begleiterscheinungen wie Vetternwirtschaft, Antragsfantastik und Korruption. Natürlich gibt es auch positive Effekte. Nezirajs Theaterkompanie Qendra Multimedia etwa wird mit Mitteln der EU-Staaten gefördert. »Dieses Festival wurde unter anderem mit Geldern des Goethe-Instituts finanziert. Und wir sind dankbar für die Unterstützung«, sagte Neziraj dem »nd«.
Die Abhängigkeit von europäischen Geldern hindert ihn aber nicht an offener Kritik. Darin unterscheidet sich Neziraj, der auch einige Zeit in Deutschland als Bauarbeiter verbrachte und das Land aus der doppelten Perspektive des Arbeitsmigranten und des gern eingeladenen Theatermachers kennt – von manch anderen Kollegen, die in ihrer Kritik gern die Herkunftsländer der jeweils aktuellen Fördergelder aussparen.
In »A.Y.L.A.N« zielt der Dramatiker direkt ins Herz der westlichen Scheinheiligkeit. Die Inszenierung beginnt mit dramatischen Momenten auf dem Mittelmeer. Es ist hier rot gefärbt: Die Stuhlreihen des Zuschauerraums sind mit rotem Textil bezogen und bilden im wogenden Auf und Ab der Lehnen die Wasseroberfläche. Das Publikum sitzt auf der Bühne und sieht, wie sich das Ensemble Schwimmzug für Schwimmzug durch das Mobiliar kämpft. Es ist eine famose Blickverschiebung, die Regisseurin Blerta Neziraj, Frau und künstlerische Partnerin des Dramatikers, dort vornimmt.
Auch der Perspektivwechsel im Text ist bemerkenswert. Denn die Flüchtlinge landen nicht an, sondern sie ziehen weiter. Roccalumera, ein fiktiver Ort an der Südküste Siziliens, ist abgeschnitten von den internationalen Hilfspaketen. Deshalb beginnt die Einwohnerschaft des Ortes Ideen zu entwickeln, wie Flüchtlinge angelockt und damit Gelder aus Brüssel akquiriert werden können. Der angespülte Körper eines Italieners wird kurzerhand zum Opfer aus Syrien erklärt und in eine Burka gesteckt. Danach kommen die Hilfskonvois. Nach einigen absurden Brechungen endet das Stück mit der Geschichte des Alan Kurdi. Die Leiche des syrischen Jungen wurde im Jahr 2015 an die türkische Mittelmeerküste gespült. Das ikonische Foto von ihm ging damals um die Welt.
Das Thema Geflüchtete ist in Kosovo akut. Menschen, die vor dem Terror der Taliban flohen, sind derzeit auf ehemaligen Militärbasen der USA in Kosovo untergebracht. Sie müssen sich dort Sicherheitsprüfungen unterwerfen. Jelena Sesar, Balkan-Verantwortliche von Amnesty International, kritisierte die mangelnde Transparenz der US-Behörden. »Was passiert mit den Menschen, wenn sie den Sicherheitsüberprüfungen nicht standhalten? Werden sie arrestiert? Riskieren sie, nach Afghanistan zurückgebracht zu werden?«, fragte sie.
Das Festival Kosovo Theatre Showcase, das am Sonntag nach sechs Tagen zu Ende ging, und insgesamt 14 Produktionen aus dem Kosovo, Serbien, der Schweiz und den USA im Programm hatte, beschäftigte sich auch mit weiteren aktuellen politischen Themen. »Balkan Bordello«, ebenfalls verfasst von Jeton Neziraj und inszeniert von Blerta Neziraj, erzählt auf der Basis der antiken »Orestie«-Trilogie das Leben in einer Nachkriegsgesellschaft. Ursprünglich war das Stück auf kosovarische Warlords getrimmt, die in der Rolle des Schlachtenlenkers Agamemnon nach Hause kommen und sich als unfähig zur Eingliederung in die Zivilgesellschaft erweisen. Bei der Uraufführung 2017 bekam Neziraj deshalb Todesdrohungen von Kriegsveteranen.
Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem La Mama Theatre in New York und dem Atelje 212 in Belgrad wurde die Geschichte jetzt internationalisiert. Handlungsort ist ein Motel, das sich überall befinden kann, wo es Kriegsrückkehrer gibt. Agamemnon und Klytemnestra werden von US-Schauspielern verkörpert, der Geliebte von Klytemnestra und ein Kriegsgefährte Agamemnons von Spielern aus Serbien. Orest, der Sohn Agamemnons, kommt als weltläufiger Schwuler in die rückständige Provinz zurück. Ihn begleitet ein Lehrer für Modern Dance, der Mitspieler und Publikum zu seinen Workshops einlädt und ihnen Traumaverarbeitung und Persönlichkeitsentwicklung verspricht. Sein Tanzstudio ist eine Metapher für die vielen sogenannten Zivilisierungsaktivitäten des Westens.
»Viele internationale Helfer haben eine Söldnermentalität. Sie gehen von Krisenort zu Krisenort und kennen sich nur oberflächlich mit der Situation vor Ort aus. Sie treten dabei mit dem Selbstverständnis auf, die angeblich wilden Balkanvölker zivilisieren zu müssen«, kritisiert Neziraj. Das bedeutet für ihn nicht, dass er im Umkehrschluss den Westen zum sofortigen Verlassen des Kosovos auffordert. Angesichts des überstürzten Abzugs des Westens aus Afghanistan brach in der kosovarischen Gesellschaft sogar kurz die Furcht aus, möglicherweise ebenfalls »im Stich gelassen« zu werden. Jeton Neziraj wünscht vielmehr eine Kooperation auf Augenhöhe.
Er ist eine wichtige Stimme aus einer Region, die einerseits zu Europa, andererseits zum globalen Süden gehört. Während des Festivals bekam er den KulturPreisEuropa überreicht. Seine Kritik, auch an Europa, wird deshalb nicht verstummen.
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