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Mordbefehle auf Deutsch
Historiker Stefan Hördler erklärt Struktur der SS im Prozess gegen KZ-Wachmann
Im Bundesarchiv hat sich ein Foto gefunden. Es zeigt einen jungen Mann in Zivilkleidung, angeblich den späteren SS-Rottenführer Josef S. bei seiner Einbürgerung im Jahre 1938. Ein Josef S., der am 16. November 101 Jahre alt wird, steht seit Anfang Oktober vor Gericht. Ihm wird vorgeworfen, als Wachmann im KZ Sachsenhausen Beihilfe zum Mord in mindestens 3518 Fällen geleistet zu haben. Zu klären ist, ob der SS-Mann und der Angeklagte identisch sind. Das Foto könnte ein Beweis sein. Da der Angeklagte in Litauen geboren ist, könnte das mit der Einbürgerung passen.
Verteidiger Stefan Waterkamp berichtet am Donnerstag in der zum Gerichtssaal umfunktionierten Turnhalle in Brandenburg/Havel, er habe seinem Mandanten das Bild gezeigt. »Er kennt das Foto nicht. Er erkennt sich auf dem Foto nicht wieder«, sagt Waterkamp.
Wenn er von Josef S. spreche, meine er immer »eine historische Figur«, jenen aus den Akten bekannten Josef S., stellt Historiker Stefan Hördler sicherheitshalber klar. Hördler leitete von 2015 bis 2019 die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und lehrt jetzt an der Universität Göttingen. Das Gericht hat ihn als Sachverständigen vorgeladen. Am Donnerstag beginnt der Historiker seine Erläuterungen zur »Struktur und Organisation des KZ-Systems unter besonderer Berücksichtigung des KZ Sachsenhausen«.
Schon als Hördler berichtet, die SS-Totenkopfverbände, welche die KZ-Häftlinge bewachten, seien 1941 mit der SS-Verfügungstruppe zur Waffen-SS verschmolzen, kommt der Angeklagte nicht mehr mit und redet dazwischen. Was er sagt, ist nur bruchstückhaft zu verstehen. Herauszuhören sind einzelne Worte wie »Nein« und »Kompanie«. Dass Verteidiger Waterkamp mit Gesten zu beschwichtigen versucht, nutzt wenig. Er bedauert, sein Mandant verstehe nicht, was der Vortrag des Historikers mit seinem Fall zu tun habe. Der Vorsitzende Richter gibt dem Rechtsanwalt fünf Minuten Zeit, Josef S. dies in einer Verhandlungspause zu erklären. Es nützt nur bedingt. Auch danach spricht der 100-Jährige in den Vortrag hinein, nur nicht mehr so häufig.
Die Dinge, die das Gericht und auch den Holocaustüberlebenden Emil Farkas interessieren und die Josef S. zu jeder Zeit im Prozess sagen dürfte, wenn er sich endlich dazu entschließt, die sagt er nicht. Denn was er von 1941 bis 1945 gemacht hat, was an den Vorwürfen der Anklage dran sein könnte, darüber schweigt er sich bislang aus.
Dabei versucht ihm Nebenklägeranwalt Thomas Walther am Donnerstag extra noch einmal ins Gewissen zu reden. Als der ehemalige Häftling Emil Farkas, der glaube, Josef S. habe ihn im Lager gesehen, in der vergangenen Woche als Zeuge vor ihm saß, habe das bei dem Angeklagten leider nichts bewegt. Walther appelliert an Josef S., »mutig zu sein«, »sein Herz in die Hände zu nehmen«. Farkas sei jetzt zurück in Israel, aber: »Sprechen sie zu uns und damit zu Emil Farkas.« Der Vorsitzende Richter ergänzt, das Angebot an den Angeklagten, zu den Vorwürfen auszusagen, gelte für das gesamte Verfahren. Verteidiger Waterkamp kündigt an, sein Mandant werde eine Erklärung abgeben, nur nicht heute. Das brauche noch Zeit. So heißt es weiter warten.
Von Josef S. kommen vorerst nur die halblauten Einwürfe, etwa zu den Erläuterungen von Historiker Hördler zu Vorgesetzten in der 9. Kompanie, in der die historische Figur Josef S. diente. »Der S. konnte damals kein Wort Deutsch«, schimpft der Angeklagte ungehalten. »Wie haben sie Befehle erteilt? Das ist unmöglich!« Er bekommt das Wort. Ihm wird sein Mikrofon eingeschaltet. Vielleicht öffnet er sich ja jetzt? Aber das ist dann doch nicht der Fall.
Nach wiederholten Störungen ermahnt der Vorsitzende Richter den Angeklagten, jetzt ruhig zuzuhören. Verteidiger Waterkamp bemerkt: »Ich glaube, Herr S. ist langsam durch. Das ist alles emotional sehr anstrengend für ihn.« Das ist eine Anspielung auf den Gesundheitszustand des Hochbetagten. Er ist nur für einige Stunden am Tag verhandlungsfähig. Da er in Brandenburg/Havel lebt, ist der Prozess des Landgerichts Neuruppin extra in diese Stadt verlegt worden, damit die Anreise nach Neuruppin nicht von der Verhandlungszeit abgeht.
Am Donnerstag geht es bis 12.22 Uhr aber noch eine Weile weiter. Dadurch kommt noch zur Sprache, dass es Deutschunterricht für die sogenannten Volksdeutschen unter den KZ-Wachleuten gegeben hat - Männer mit deutschen Vorfahren also, die aber nicht mit Deutsch als Muttersprache aufwuchsen. Zwölf Deutschstunden pro Woche habe es gegeben. »Da würde ich ja Chinesisch lernen«, kommentiert einer der Nebenklägeranwälte trocken - also auch eine kompliziertere Sprache. Tatsächlich sollte der Sprachkurs ausreichen, Befehle zu verstehen. Für jene, die nicht soweit waren, gab es Bilderbücher, um ihnen die Dienstvorschriften zu erläutern.
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