- Sport
- Fußball WM-Qualifikation
Neun Tore zum Abschied
Das Team von Bundestrainer Hansi Flick zeigt Vorgänger Joachim Löw und den Fans gegen Liechtenstein wieder Spaßfußball
Es kommt nicht so oft vor, dass die Besucher eines Länderspiels nach dem Abpfiff nicht nach Hause wollen. Überall in der Wolfsburger Arena stellten sich die Zuschauer noch einmal an den Stahlgeländern auf, wendeten dem Spielfeld den Rücken zu, um nach dem 9:0-Torfestival der deutschen Fußballer gegen Liechtenstein ein Erinnerungsbild zu schießen - am besten noch mit der Nationalmannschaft im Hintergrund. Während die Spieler langsam ihre Ehrenrunde drehten, dröhnte das stimmungsvolle »Sweet Caroline« von Neil Diamond aus den Boxen: Deutschlands Heimspiele sind unter Hansi Flick wieder echte Spaßveranstaltungen, für die sich das Eintrittsgeld lohnt. Nach Stuttgart und Hamburg hat am Donnerstagabend auch Wolfsburg die neue Begeisterung erlebt.
»Ich glaube, das war das Beeindruckendste«, sagte der Bundestrainer. Startrekord hin oder her: »Das Zusammenspiel zwischen Mannschaft und Fans war toll, eine grandiose Stimmung«, befand der 56-Jährige - ohne den netten Nebeneffekt an diesem Novemberabend am Mittellandkanal unerwähnt zu lassen: »Es war auch das Ziel, Jogi Löw mal wieder ein schönes, attraktives Fußballspiel zu bieten.« Sein Vorgänger konnte bei seiner offiziellen Verabschiedung aus nächster Nähe miterleben, wie seinem ehemaligen Assistenten mit einfachen Handgriffen die Wiederbelebung des DFB-Teams gelungen ist. Flick erzählte später von Trainingseinheiten, in denen »Wille und Bereitschaft« geschult würden, um »die Idee, die wir vom Fußball haben, auch umzusetzen«. Klingt eigentlich ganz simpel.
Wie viel Potenzial der Kader bietet, ist an Leroy Sané abzulesen. Bei der EM nur Mitläufer, teilweise sogar Störfaktor, hat ihm Flick den richtigen Weg gewiesen. Dabei wurde er zu Saisonbeginn sogar beim FC Bayern München schon zum Buhmann abgestempelt. In Wolfsburg erhielt der Doppeltorschütze bei seiner Auswechslung stehende Ovationen der 25 984 Augenzeugen. In seinem Laufstil, der auch stets Vollsprints zur Balleroberung beinhaltet, sei der 25-Jährige sogar »einzigartig«, dozierte der Bundestrainer. Die letzten Wochen hätten einfach gezeigt, »was er für ein toller Spieler ist. Er spielt mit einer Leichtigkeit. Ich habe ihn ja auch eine Saison lang erleben dürfen in München.« Flick versteht es anscheinend sehr gut, die Qualitäten seiner Einzelspieler in ein funktionierendes Gesamtkonstrukt zu fügen. Daran war Löw bei der paneuropäischen EM grandios gescheitert.
Jogi war gestern, Hansi ist heute - so müsste daher der Slogan lauten, nachdem aktive und nicht mehr aktive Weltmeister von 2014 im Spalier stehend die Langzeitverdienste Löws würdigten. Der 61-Jährige quittierte die »Jogi, Jogi«-Rufe mit einem feinen Lächeln, verzichtete auf eine Danksagung am Stadionmikrofon, verriet aber via Fernsehkamera, dass er »eine Weile gebraucht« habe, um gerade die EM (»das letzte Turnier war ja für uns alle ein bisschen enttäuschend«) zu verarbeiten.
Dass es im Nachhinein besser gewesen wäre, nach der 0:6-Abreibung vor einem Jahr gegen Spanien zurückzutreten, weiß Löw vermutlich selbst. Aber vielleicht hilft der Warnschuss vor den Bug in Wembley sogar allen noch. Denn mit Blick auf die WM 2022 in Katar, die fast ohne Vorbereitungszeit gespielt werden muss, wächst das Ensemble wieder viel schneller zusammen als gedacht. Zu weit in die Wüste wollte Flick aber noch nicht schauen, denn am Sonntagabend steht noch das letzte WM-Qualifikationsspiel in Jerewan an: »Jetzt geht es mit absoluter Vorfreude Richtung Armenien, da wollen wir einen guten Abschluss haben.« Bislang hat der Bundestrainer nur entschieden, dass der gelbgesperrte Antonio Rüdiger die Reise in den Kaukasus nicht antreten soll.
Erfahrene Spieler ordneten die fast makellose WM-Qualifikation, die mit 27 von 30 möglichen Punkten enden soll, bereits jetzt richtig ein. »Man muss das ein bisschen relativieren. Es ist ja so, dass wir jetzt keine extrem schwierigen Gegner in der Gruppe haben«, erklärte Thomas Müller. Und: »Wenn Liechtenstein mit der ersten Szene gleich eine Rote Karte sieht, dann wird es für uns natürlich einfacher.« Tatsächlich hatte das Schützenfest gegen die Amateure aus dem Fürstentum nur noch den Charakter eines besseren Trainingsspiels, nachdem Jens Hofer nach einem rüden, aber unabsichtlichen Tritt an den Hals von Leon Goretzka von der kroatischen Schiedsrichterin Ivana Martincic nach neun Minuten vom Platz gestellt worden war. Der Antreiber vom FC Bayern kam mit Schrammen davon und soll laut Flick in Jerewan dabei sein: »Leon ist ein Spieler, den wir brauchen, gerade in der aktuellen Situation.«
Der vom neuen Bundestrainer sofort reaktivierte Marco Reus hatte ebenso Spaß wie die Fans. Man könne durch überzeugende Auftritte gar nicht genug an Selbstvertrauen tanken, sagte Borussia Dortmunds Kapitän. Nicht ganz unwichtig nach den Turbulenzen der vergangenen Tage - die acht Ausfälle durch Corona, Quarantäne oder Muskelverletzungen steckte das Team aber locker weg. »Wenn man was ausprobieren will, braucht man Platz im Kader. Den haben wir bekommen«, wählte Flick eine pragmatische Formulierung für die Tatsache, dass ausgerechnet der nachnominierte Ridle Baku das schönste Tor des Abends erzielt hatte. Nach dem mühsamen 2:0-Sieg im Hinspiel gegen Liechtenstein im schweizerischen St. Gallen hatte Flick den Wolfsburger noch sofort heimgeschickt, weil er dessen Leistung als unzureichend empfand. Nun zeigt sich auch bei dieser Personalie der schnelle Lerneffekt.
Der Bundestrainer steht jetzt bereits bei sechs Siegen und stolzen 27:1 Toren - vielleicht hat der Hoffnungsträger aus Heidelberg sogar einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt. Als in seinem Rücken kurz vor Mitternacht eine kleine Fanschar an den Plexiglasumrandungen der Nordkurve rüttelte und unentwegt »Hansi, Hansi« brüllte, drehte sich Flick irgendwann um und grüßte fast verlegen zurück.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!