Mehr als ein Vollzeitjob

Die mittlerweile verbreitete »Live-In-Pflege« bedeutet für die meist migrantischen und weiblichen Pflegekräfte absolute Verfügbarkeit. Dies zeigt auch eine aktuelle Studie

  • Theresa Tschenker und Simone Habel
  • Lesedauer: 6 Min.

Weibliche Sorgearbeit dient im Kapitalismus als Ressource, auf die oftmals unbezahlt zurückgegriffen wird. Im Privaten unsichtbar gemacht, wird ihr Charakter als Arbeit negiert. Deshalb bewegen sich Kämpfe um die Aufwertung von Sorgearbeit in einem Kontext, in dem zunächst um die Anerkennung dieser Tätigkeit als Arbeit und als vergütungspflichtige Arbeitszeit gerungen werden muss. Ein Paradebeispiel für diese Dynamiken ist die Pflegearbeit von Migrantinnen in Privathaushalten, die sogenannte Live-In-Pflege, und gerade diese hat sich in Deutschland als gängiges Modell zur Versorgung von Pflegebedürftigen der Mittelschicht etabliert. Sogenannte Pendelmigrantinnen aus Mittel- und Osteuropa übernehmen Betreuung, Hauswirtschaft und Pflegetätigkeiten und leben hierfür in der Regel über zwei bis drei Monate im Haushalt der pflegebedürftigen Person.

Ständige Ansprechbarkeit

Die Aurorinnen

Theresa Tschenker ist Juristin und promoviert am Lehrstuhl von Prof. Dr. Eva Kocher an der Europa-Universität Viadrina zum Thema Politischer Streik und Notdienste am Beispiel der Altenpflege.

Simone Habel ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nell-Breuning-Institut. Sie arbeitet im HBS-Projekt »Modelle der Live-In-Pflege« zu Arbeitsbedingungen, Care und feministischen Theorien.

Pflegebedürftige, Angehörige und Agenturen richten an die sogenannten Live-Ins die Erwartung, ständig ansprechbar und einsatzbereit zu sein - eine Anspruchshaltung, die auch dadurch hergestellt wird und aufrechterhalten bleibt, dass Agenturen mit dem Angebot einer »24-Stunden-Pflege« werben. Indem sich die (nahezu ausschließlich weiblichen) Sorgearbeiterinnen in ständiger Bereitschaftszeit befinden, wird die gesetzliche Höchstarbeitszeit deutlich überschritten.

Trotz der offensichtlichen Verstöße gegen Minimalstandards von Arbeitsrechten versorgen derzeit in Deutschland zwischen 300 000 und 600 000 Migrantinnen die Pflegebedürftigen auf diese Weise, unter stark prekären Bedingungen. Die Rechtsverstöße in der Live-In-Pflege werden vom Staat bislang akzeptiert. Aus Ermangelung staatlicher Kontrollen der Arbeitsbedingungen und der Unterfinanzierung des Pflegesektors hat sich ein »grauer Markt« ausgebildet. Die entsprechenden Vermittlungsagenturen gestalten diesen Markt mit und beziehen sich dabei auf rechtliche Rahmenbedingungen, die sie jedoch nicht vollständig umsetzen.

Unsere Studie »Reduktion der Arbeitszeit in der Live-In-Pflege. Eine interdisziplinäre Untersuchung von Maßnahmen der Vermittlungsagenturen« hat sich mit einer besonders einflussreichen Gruppe von Agenturen befasst: mit den sogenannten Pionieren. Vermittlungsagenturen, die als »Pioniere« verstanden werden, zeichnen sich durch eine proaktive Kritik daran aus, dass die Live-In-Pflege nicht als eigenständige Branche reguliert ist. Die »Pioniere« prägen den Live-In-Markt durch ihre Größe oder durch politische Lobbyarbeit. Einige sind sehr aktive Mitglieder in der Verbändestruktur der Agenturen. Sie haben die Qualität der Pflegeleistungen und Vermittlungstätigkeiten als Wettbewerbsvorteil erkannt und versuchen sich von anderen Anbietern und dem »Schwarzmarkt« abzuheben. Zudem etablieren sie Ansätze der Selbstregulierung und gehen freiwillige Selbstverpflichtungen zu Mindeststandards ein. Uns hat interessiert, ob diese Ansätze der Selbstregulierung die Arbeitsbedingungen - insbesondere die umfassende Arbeitszeit - verbessern können.

In sechs Interviews mit Expert*innen von Agenturen und Wohlfahrtsorganisationen haben wir versucht, einen Einblick in Maßnahmen der Agenturen hinsichtlich der Arbeitszeit zu erhalten. Wir interviewten zwei Vertreter*innen des Arbeitgebermodells, zwei des Entsendemodells und zwei des Selbstständigenmodells. Neben den Interviews haben wir die Verträge der Agenturen und die Angaben ihrer Internetauftritte analysiert.

Unwirksame Selbstregulierung

Inwiefern hat die Selbstregulierung der Agenturen zur Reduktion der Arbeitszeit der Live-Ins beigetragen? Unsere Untersuchung hat gezeigt - kaum. Die untersuchten Agenturen bieten verschiedene Maßnahmen als freiwillige Formen der Selbstregulierung an: Alle Agenturen nennen verschiedene Ansprechpartner*innen vor Ort und beziehungsweise oder im Herkunftsland für Konfliktfälle. Auch werden professionelle und informelle Akteure im Rahmen eines Pflegemixes in die Aufgaben miteinbezogen. Zudem führt zumindest eine Agentur aus jedem Modell vor Beginn des Arbeitseinsatzes Gespräche mit den Familien und Live-Ins über die Arbeitszeitproblematik. Auch erfolgt in diesen drei Agenturen die Bedarfserhebung vor Ort und Betreuungsfälle mit zu hoher Arbeitsbelastung werden ausgeschlossen.

Des Weiteren intervenieren alle Agenturen - in unterschiedlichem Umfang - bei einem Verstoß gegen die vereinbarten Arbeitszeiten. Nur die Agenturen des Arbeitgebermodells werden bei Missachtung der vertraglichen Arbeitszeiten von 38,5 Stunden pro Woche aktiv; die Agenturen des Entsendemodells erst in Extremfällen (wie Nachteinsätzen); die Agenturen des Selbstständigenmodells intervenieren bei Verstößen gegen individuell vereinbarte Freizeitregelungen beispielsweise ein freier Tag pro Woche. Nicht jede Intervention dient der Reduktion der Arbeitszeit, da auch eine Lohnerhöhung (wie im Selbstständigenmodell) eine mögliche Reaktion darstellen kann. Die »Pioniere« weisen somit verschiedene Ansätze der Selbstregulierung auf.

Vergeschlechtlichte Sorgearbeit

Zugleich wird in der Studie sichtbar: An der grundlegenden Problematik der Arbeitszeit ändert sich wenig; vielmehr ziehen sich auch bei den »Pionieren« problematische Strukturen der Live-In-Pflege durch. So ist das Verständnis von Arbeitszeit durch die Agenturen vielfach gekennzeichnet von Widersprüchen und vom Absprechen des Charakters der Arbeit. Sorgearbeit, Ansprechbarkeit und Fürsorge werden nicht als Arbeit verstanden. Gemeinsames Kaffeetrinken, Fernsehen und Spazierengehen werden vielmehr zur Freizeit der Live-Ins umgedeutet. Inwieweit die Live-In ihre Freizeit ganz anders gestalten möchte, bleibt hierbei unberücksichtigt. Diese Narration reiht sich in Verständnisse vergeschlechtlichter Sorgearbeit ein, die keine Arbeit sein darf. Auch die Agenturen der Live-In-Pflege nehmen an, dass man - für viele Stunden unbezahlt - auf weibliche Sorgearbeit zurückgreifen kann. In den Interviews betonen einige Agenturen, dass diese besondere Form der Arbeit deswegen im Arbeitsrecht gar nicht aufgehen kann.

Lediglich eine Agentur bietet einen Musterarbeitsplan, in dem für alle freien Zeiten der Live-In weitere Akteure eingetragen werden müssen. Sie ist damit die einzige Agentur, die ein rechtskonformes Verständnis von Arbeitszeit aufweist, indem freie Zeit auch als solche organisiert wird. Vertragliche Regelungen zur Arbeitszeit sind ebenso nicht bei allen Agenturen zu finden. Bestehen Absprachen zur Arbeitszeit, übertragen alle Agenturen die Verantwortlichkeit zur Einhaltung der Vereinbarungen auf die Live-In. Die Agenturen übernehmen damit nicht die Verantwortung für die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses nach den Maßgaben des Arbeitszeitgesetzes, obwohl diese Pflicht den Arbeitgeber*innen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zukommt.

Einige Maßnahmen der Agenturen können punktuell die Rahmenbedingungen in der Live-In-Pflege verbessern. Dennoch sind strukturelle Verständnisse - wie von vergeschlechtlichter Sorgearbeit - auch bei den »Pionieren« sichtbar und wirkmächtig. In der Rolle der Live-Ins und ihrer Kontinuität zu Hausangestellten verdichten sich lange bestehende Hierarchieverhältnisse von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. In der Praxis der Agenturen wird die historisch bestehende Herabsetzung weiblicher Sorgearbeit als Nicht-Arbeit reproduziert.

Von »Live-In« zu »Live-Out«

Versuche, die Arbeit von migrantischen Live-In-Pflegekräften aufzuwerten, beinhalten zunächst die Anerkennung ihrer Tätigkeiten als Arbeit. Dazu gehört, dass auch Ansprechbarkeit und Verfügbarkeit, Spazierengehen und Kaffeetrinken Arbeitszeit sind und dass diese Arbeit entlohnt werden muss wie jede andere. Dies hat auch das Bundesarbeitsgericht so gesehen, indem es am 24. Juni dieses Jahres urteilte, dass entsandte Arbeiterinnen in der Live-In-Pflege für jede Stunde ihrer Bereitschaftszeit nach dem Mindestlohngesetz zu vergüten sind.

Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, bringt Selbstregulierung in diesem Feld wenig. Wenn die Einhaltung von Mindeststandards - auch für migrantische Sorgearbeiterinnen - ernst genommen werden soll, braucht es andere Modelle. Das Verschwimmen von Lohnarbeit und Freizeit durch das Zusammenfallen von Arbeits- und Wohnort muss durchbrochen werden. Die Tatsache, dass Live-In-Pflege grundlegend darauf aufbaut, dass »immer jemand da ist«, muss benannt und anschließend verändert werden. Infolge müssen Live-Out-Modelle umgesetzt werden, in denen eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit gegeben ist.

Simone Habel und Theresa Tschenker: Reduktion der Arbeitszeit in der Live-In-Pflege. Eine interdisziplinäre Untersuchung von Maßnahmen der Vermittlungsagenturen. Die Studie erscheint noch dieses Jahr im Rahmen der Hans- Böckler-Stiftung.

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