Krieg gegen Schutzsuchende

Karl Kopp fordert, das Asylrecht, das Recht auf Leben und Menschenwürde zu verteidigen

  • Karl Kopp
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach dem türkischen Staatschef Erdoğan und Marokkos König Mohammed VI. ist Belarus’ Präsident Lukaschenko nun der nächste Autokrat, der Schutzsuchende zu politischen Zwecken instrumentalisiert. Erpresst werden kann die EU allerdings nur, weil sie bereits beim Auftauchen von ein paar Tausend geschundenen Schutzsuchenden in den Panik- und Notstandsmodus verfällt. Der Club der 27 Staaten besitzt keinen Funken Menschlichkeit und ist nicht willens, eine solidarische Aufnahme der an der EU-Ostgrenze festsitzenden Schutzsuchenden zu organisieren. Diese Geflüchteten werden bewusst entmenschlicht, indem sie von führenden Politiker*innen in Deutschland und Europa als »politische Waffe« oder »eine Form der hybriden Bedrohung« bezeichnet werden. De facto findet ein Krieg gegen Schutzsuchende statt.

Die gestrandeten Flüchtlinge kommen überwiegend aus den Konfliktländern Syrien, Afghanistan, Jemen und Irak und suchen Schutz in der EU an den östlichen Außengrenzen zwischen Belarus und Lettland, Litauen beziehungsweise Polen. Tausende Soldaten stehen ihnen an der Grenze gegenüber, martialische Mauerbauten werden hochgezogen und es werden systematisch völkerrechtswidrige Zurückweisungen, sogenannte Pushbacks vollzogen. Unsere polnische Kollegin, die Rechtsanwältin Marta Górczyńska, berichtet, dass selbst aus polnischen Krankenhäusern, wo nur wenige Schutzsuchende landen, nach Belarus abgeschoben wird. Es herrsche pure Willkür. Das Recht spiele keine Rolle mehr.

Die polnische Regierung hat eine militärische Sperrzone errichtet, in die internationale Beobachtungsteams ebenso wenig gelassen werden wie Journalist*innen. Es ist eine Blackbox entstanden, keiner soll mitbekommen, was dort geschieht. Die Schutzsuchenden dort sind in Lebensgefahr. Es ist bis heute nicht gelungen, eine internationale Delegation – ob nun vom Internationalen Roten Kreuz, von der Uno, dem Europarat oder dem Europaparlament oder der EU-Kommission – ins Grenzgebiet zu schicken, um zu erfahren, was dort mit den Schutzsuchenden geschieht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Polen mehrfach verpflichtet, humanitäre Hilfe zu gewähren, doch nichts ist passiert. Ende September ordnete das Gericht außerdem an, dass eine Gruppe afghanischer Flüchtlinge nicht nach Belarus zurückgeführt werden darf. Auch dieses Urteil wurde missachtet. Während die Temperaturen in der Nacht bereits unterhalb des Gefrierpunkts liegen, kämpfen Schutzsuchende ums Überleben. Mindestens zehn Menschen starben bereits, lokale Initiativen gehen von einer viel höheren Zahl aus.

Derweil hat sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer dagegen ausgesprochen, die im Grenzgebiet feststeckenden Schutzsuchenden in Deutschland aufzunehmen. Die Bilder notleidender Menschen an der Grenze müsse die Gesellschaft aushalten. Hässliche Bilder aushalten, schreckliche Bilder selbst produzieren, das ist die Maxime der Victor Orbáns. Eine menschenverachtende Haltung, die mittlerweile europäische Flüchtlingspolitik prägt.

Die drei Ampel-Koalitionsparteien haben in ihrem Sondierungspapier bekundet, dass sie das Sterben auf dem Mittelmeer genauso wie das Leid an den europäischen Außengrenzen beenden wollen. Aus den aktuellen Wortbeiträgen von künftigen Regierungsmitgliedern zur humanitären und rechtsstaatlichen Krise an der Ostgrenze ist bis jetzt jedoch nichts zu vernehmen, was diesen Anspruch einlöst.

Warme Socken als Willkommensgeschenk - Solidaritätsaktionen für Flüchtlinge an der Grenze zu Polen

Pro Asyl fordert von der künftigen Bundesregierung, ein europaweit hörbares Signal für den Schutz von Flüchtlingen, die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und die Öffnung gefahrenfreier Wege zu setzen. Es gilt nun, eine Allianz aus den aufnahmebereiten Staaten und den Hunderten Städten und Kommunen in der EU zu schmieden. Diese Koalition der Menschlichkeit und Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme muss das Asylrecht, das Recht auf Leben und Menschenwürde verteidigen – und damit auch die Essenz des Projektes Europa: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ...« (Art. 2 EU-Vertrag).

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!