Zu wenig Lohn zum Leben

16 Prozent der Minijobber*innen im Berliner Einzelhandel müssen ihr geringes Gehalt mit Stütze aufstocken

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Berliner Einzelhandel verdienen viele ausschließlich geringfügig Beschäftigte so wenig, dass sie aufstocken müssen. Prozentual dreimal so viele wie im Bundesdurchschnitt trifft dieses Schicksal. Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit waren im März 2021 noch 16 Prozent der insgesamt rund 14 000 Minijobber*innen im Berliner Einzelhandel berechtigt, ergänzend zu ihrem Einkommen staatliche Gelder zu beziehen, bundesweit waren es nur sechs Prozent. Zwar sinkt die Zahl der Minijobber*innen kontinuierlich seit 2011, in Berlin aber langsamer als im Bundesdurchschnitt.

Minijobber gehen während des Lockdowns leer aus. Bundesarbeitsgericht: Pandemie ist kein Betriebsrisiko

Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sehen die Zahlen insgesamt besser aus, sind aber immer noch fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt: In Berlin waren im März dieses Jahres 4,1 Prozent zwischen 15 Jahren und dem Renteneintrittsalter Aufstocker*innen. Dabei müssen Beschäftigte in Teilzeit (6,9 Prozent) deutlicher häufiger zum Amt rennen als ihre Kolleg*innen in Vollzeit (1,2 Prozent).

Der Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser (Linke) hatte die Zahlen vom Bundesamt für Statistik angefordert und ausgewertet. »Die hohe Zahl der Aufstocker*innen im Berliner Einzelhandel zeigt einmal mehr, dass es dringend notwendig ist, in der Branche wieder für anständige Arbeitsbedingungen zu sorgen«, sagte er gegenüber »nd«. In dem Zusammenhang kritisiert Meiser Pläne der neuen Koalition aus SPD, FDP und Grünen auf Bundesebene, die Minjob-Verdienstgrenze von derzeit 450 Euro auf 520 Euro anzuheben.

Vermögende können aufatmen. Der Rahmen für Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP: keine Steuererhöhung, mehr Mindestlohn, Bürgergeld statt Hartz IV

»Der Mindestlohn hat generell zu einem Rückgang der Minijobs geführt, weil er faktisch eine Höchstarbeitsdauer für diese Jobs eingeführt hat«, sagte Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu »nd«. Mit jeder Anhebung des Mindestlohnes sei die Stundenzahl der Minijobber*innen weiter gesunken: Mit mehr Geld pro Stunde braucht man weniger Arbeitsstunden im Monat, um auf 450 Euro zu kommen. Das Modell Minijob dürfte für Unternehmen daher unattraktiver geworden sein, erläuterte Schulten.

Unter anderem deshalb ist den Gewerkschaften die Anhebung der Verdienstgrenze für die Minijobs ein Dorn im Auge. Die Betroffenen müssten dann wieder mehr Stunden arbeiten, um auf das Geld zu kommen. Ergebnis: Minijobs werden für Unternehmen wieder attraktiver. Dem Plan, den im europäischen Vergleich sehr großen deutschen Niedriglohnsektor zurückzudrängen, widerspricht das.

1,2 Millionen Minijobbern droht Altersarmut. Linke fordert ein Ende von »Beschäftigungsverhältnissen zweiter Klasse«

Das WSI hat im Dezember 2020 die Entwicklung der Tarifpolitik in Bezug auf die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Jahr 2015 untersucht. Die Bruttostundenlöhne in der untersten Einkommensgruppe im Berlin-Brandenburger Einzelhandel sind demnach seit 2011 von 10,22 Euro auf 12,69 gestiegen, während der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro auf 9,35 Euro stieg. Der Abstand der untersten Einkommensgruppe zum Mindestlohn hat sich vergrößert. Was die Einführung des Mindestlohnes aber nicht ausgelöst hat, ist eine höhere Bereitschaft, Tarifverhandlungen zu führen oder bestehende Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären.

Und die Tarifbindung sinkt weiter: Nach dem Betriebspanel 2020 gab es in 20 Prozent der Einzelhandelsunternehmen für insgesamt 34 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag. Zum Vergleich: 22 Prozent der Betriebe im verarbeitenden Gewerbe hatten Tarifverträge, die aber für 64 Prozent der Beschäftigten gelten. Die Einzelhandelslandschaft ist geprägt von vielen kleinen Unternehmen, denen, wie auch den großen Kaufhäusern, der Onlinehandel seit Jahren zusetzt. Bei den Personalkosten lässt sich am schnellsten Geld sparen. Also erscheinen Beschäftigungsverhältnisse mit möglichst wenig Geld für möglichst viele Stunden äußerst reizvoll.

Einzelhandels-Beschäftigte sind kampfwillig. Tarifverhandlungen in Berlin und Brandenburg stecken fest, das Angebot der Arbeitgeber sei nicht verhandelbar

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hatte zuletzt mit ihren Mitgliedern in der Tarifrunde 2021 für den Einzelhandel 4,7 Prozent mehr Lohn und Gehalt bei einer Laufzeit des Tarifvertrags von 24 Monaten erstritten. Doch von diesen Erhöhungen haben die Minijobber*innen nichts. Sie fallen nicht unter die Tarifverträge. Insgesamt profitieren von dem Abschluss nur rund 27 Prozent der Beschäftigten. Die anderen arbeiten in Betrieben ohne Tarifvertrag, zudem ist der Entgelttarifvertrag im Einzelhandel nicht allgemeinverbindlich.

Die Zahl der tarifgebundenen Betriebe muss steigen. Das fordern Gewerkschaften wie Politiker seit Jahren. Zuletzt fanden sich in den Programmen zur Bundestagswahl von SPD, Linke, Grünen und CDU Bekenntnisse zur Verbesserung der Tarifbindung sowie zu einer vereinfachten Erklärung von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich. Das heißt: Würde beispielsweise der Entgelttarifvertrag Einzelhandel vom Bundesarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt, gilt er für die gesamte Branche und nicht bloß für die Unternehmen, die den Tarifvertrag unterzeichnet haben. Allerdings muss das beim Bundesarbeitsministerium von Arbeitgeberverband und Gewerkschaften gemeinsam beantragt waren. Daran scheitert es oft. Deshalb müssten »endlich die Grundlagen dafür geschaffen werden, dass Tarifverträge künftig auch gegen die Blockadehaltung der Arbeitgeberverbände für allgemeinverbindlich erklärt werden können«, sagte der Bundestagsabgeordnete Meiser.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -