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Jüngstes Schachtalent rüttelt am Thron
Der 18-jährige Alireza Firouzja stellte bei der EM eine Bestmarke auf, die sogar Magnus Carlsen in den Schatten stellt
In wenigen Tagen wird die Schachwelt gespannt nach Dubai blicken. Dort wird Norwegens Weltmeister Magnus Carlsen ab Freitag zum vierten Mal seinen Titel verteidigen, dieses Mal gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi. Doch seit Sonntagabend redet die weltweite Schachgemeinde über keinen der WM-Kontrahenten mehr, sondern nur über Alireza Firouzja. Der gebürtige Iraner, der jetzt für Frankreich am Brett sitzt, stellte eine Bestmarke auf, die selbst Carlsen in den Schatten stellt. Als jüngster Schachspieler überhaupt überschritt der 18-Jährige die Grenze von 2800 Elo-Punkten. Und nun ist die Debatte entbrannt, ob Firouzja der neue Superstar nach Carlsen wird.
Die Elo-Zahl gibt die Güte jedes Turnierspielers an. Vereinfacht ausgedrückt klettert sie mit jedem Sieg und fällt mit jeder Niederlage. Bei Erfolgen gegen viel stärkere Spieler steigt sie noch schneller. Anfänger starten im dreistelligen Bereich. Ganz oben wird es ab 2700 sehr dünn. Die 2800er Marke haben seit der Elo-Einführung durch den Weltverband Fide im Jahr 1970 nur 15 Großmeister übertroffen. Als bislang Jüngstem war dies Carlsen gelungen, Firouzja schaffte es sechs Monate früher als der Norweger im Jahr 2009. Bis Sonntag lag Carlsen mit 2855 als einziger Spieler aktuell über der Marke. Der zwölf Jahre jüngere Firouzja (2803) steht nun in der Weltrangliste hinter ihm auf Rang zwei.
Der Sprung, mit dem er gleich sieben Großmeister überholte, gelang Firouzja bei den Team-Europameisterschaften in Slowenien, die er erstmals spielen durfte. Firouzja war bis 2019 für sein Heimatland Iran angetreten, sah sich bei einem Nachwuchsturnier in Karlsruhe allerdings gezwungen, zu einer Partie nicht anzutreten, die er gegen einen Israeli hätte spielen sollen. Irans Regierung untersagt eine Teilnahme, da das Land Israel nicht anerkennt. Mal ein Spiel verloren zu geben, machte Firouzja offenbar nicht viel aus, solange er ansonsten in Ruhe gelassen wurde.
Das änderte sich aber kurz nach diesem Vorfall, denn die Fide änderte ihre bis dahin nachgiebige Politik und drohte Ende 2019 Irans Schachverband mit der Suspendierung, sollten weitere Partien boykottiert werden. Iran zog daraufhin alle Spieler von internationalen Turnieren ab. Firouzja sah somit seine eigene Entwicklung dauerhaft gefährdet und startete fortan unter neutraler Flagge. Zu dem Zeitpunkt lebte er bereits in Frankreich, dessen Nationalität er im Juli 2021 annahm.
Wenn auch nicht aus einem politischen Motiv heraus geschehen, hat sich diese Entscheidung zumindest sportlich für ihn gelohnt. Denn Firouzja gewann sieben seiner neun EM-Partien, die anderen beiden gingen remis aus. Die Franzosen holten dank ihres neuen Stars EM-Silber hinter den sieggleichen Ukrainern. Nur die beiden US-Amerikaner Bobby Fischer im Kandidatenturnier 1971 und Fabiano Caruana 2014 spielten rechnerisch noch stärker als er in einem Turnier auf diesem Niveau.
»Alireza ignoriert viele gängige Regeln. Er griff mit Figuren an, die eigentlich den eigenen König schützen sollten oder ließ diesen frei auf dem Brett herumlaufen«, analysierte Levy Rozman, Internationaler Meister aus den USA und Inhaber eines des erfolgreichsten Youtube-Schachkanäle Firouzjas EM-Partien für sein Millionenpublikum. »Dem Computer gefallen diese Schritte erst mal nicht. Zwei Züge später aber sagt er: Eigentlich ist das wirklich clever. Firouzja ist gerade dabei, Schach weiterzuentwickeln.«
Und so kommt es, dass die Enthusiasten des Denksports noch vor der aktuellen WM schon die kommende kaum erwarten können. Jan Nepomnjaschtschi jedenfalls werden kaum Chancen gegen Magnus Carlsen eingeräumt. Im Grunde hoffen die Fans sogar, dass der Norweger seinen Thron verteidigt, damit Himmelsstürmer Firouzja vielleicht schon nächstes Jahr in einem epischen Duell kräftig daran rütteln kann.
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