Straße nach Nazi-Jungmädel benannt

Gutachten belegt: Speziallagerhäftling Gisela Gneist als Namensgeberin in Oranienburg ungeeignet

  • Andreas Fritsche, Oranienburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Blick auf die Baustelle der Gisela-Gneist-Straße von Oranienburg – unweit der Gedenkstätte Sachsenhausen
Blick auf die Baustelle der Gisela-Gneist-Straße von Oranienburg – unweit der Gedenkstätte Sachsenhausen

In Stadtplänen ist die Gisela-Gneist-Straße von Oranienburg bereits verzeichnet. Doch vorerst gibt es sie fast nur auf dem Papier. Während der nördliche Teil des Neubaugebiets Aderluch bereits fertiggestellt und von den Bewohnern bezogen ist, dreht sich im südlichen Teil noch der Baukran neben einem Rohbau und ein Bagger steht zwischen riesigen Sandhaufen.

Auf dem Gelände befand sich von 1942 bis 1945 das Außenkommando »Zeppelin« des nahen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Hunderte Häftlinge, vor allem osteuropäische Jugendliche, mussten hier in der Rüstungsindustrie schuften.

»Personen, nach denen Straßen in einem solchen Gebiet benannt werden, müssen gerade hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen über jeden Zweifel erhaben sein«, findet Axel Drecoll, Direktor der Stiftung brandenburgische Gedenkstätten. Bei Gisela Gneist ist das nach seiner Überzeugung nicht der Fall. Ihn bestätigt jetzt ein zehnseitiges Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Die Autoren Frank Bajohr und Hermann Wentker stellten es am Montag vor.

Gisela Gneist saß von 1946 bis 1950 im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen, das die Baracken des befreiten Konzentrationslagers benutzte. Prinzipiell sei nichts dagegen einzuwenden, wenn in Oranienburg Straßen nach Häftlingen des Speziallagers benannt werden, versichert Stiftungsdirektor Drecoll. »Die sowjetischen Speziallager waren Orte von Unmenschlichkeit, Rechtlosigkeit und Gewalt. Zu unserer demokratischen Erinnerungskultur gehört selbstverständlich, an das Leid der Speziallagerinternierten, zu denen Gisela Gneist gehörte, zu erinnern.«

Aber der Ort sei der falsche. Das KZ-Außenkommando »Zeppelin« habe mit dem sowjetischen Speziallager nichts zu tun gehabt, erinnert Drecoll. Und auch die Person sei die falsche. Schließlich habe sich Gisela Gneist offensichtlich komplett geweigert, differenziert zu betrachten, dass im sowjetischen Lager auch Nazi-Kriegsverbrecher und andere Belastete gesessen haben. Außerdem habe Gneist Kontakte in die rechte und rechtsextreme Szene nicht gescheut.

1940 war Gisela Gneist - damals hieß sie noch Gisela Dohrmann - in den faschistischen Bund Deutscher Mädel (BDM) gekommen und 1942, mit zwölf Jahren, Jungmädelführerin geworden. Sie hat ihre Zeit dort als Idylle verklärt, wie Gutachter Wentker erläutert. Ihr Vater war früh in die NSDAP eingetreten, wahrscheinlich schon vor 1933. Nach Kriegsende betätigte sich die Tochter in ihrer Heimatstadt Wittenberge in einer antisowjetischen Gruppe, die eine hektografierte Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel »Germanische Freiheit« herausbrachte. Die Gruppe, die sich Waffen beschaffen wollte, flog auf. Da den Gutachtern die sowjetischen Ermittlungsakten nicht zugänglich waren, in denen sich vielleicht Exemplare der Zeitschrift erhalten haben, konnten sie nicht nachprüfen, ob sich die Gruppe »in der Ideenwelt des nationalsozialistischen Antibolschewismus bewegte«, wie Wentker sagt. Zu vermuten ist es allerdings.

Dies alles ließe sich noch als Jugendsünde entschuldigen. Andere, wie der Schriftsteller Erik Neutsch, waren nach Kriegsende auch noch von der Naziideologie verblendet und wurden eingesperrt, haben sich dann aber klar distanziert. Dies ist bei Gisela Gneist so nicht zu erkennen. Sie ging nach ihrer Freilassung in den Westen und wurde 1995 Vorsitzende der »Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950 e.V.«, was sie bis zu ihrem Tod 2007 blieb.

Dem früheren Stiftungsdirektor Günter Morsch warf sie vor, dieser werde »keine Gelegenheit auslassen, um sich gegenüber dem Zentralrat der Juden und jüdischen Opferverbänden ins rechte Licht zu setzen, um sich deren Wohlwollen zu erkaufen«. Über einstige deutsche KZ-Häftlinge sagte sie, das seien vor allem »Berufsverbrecher, Asoziale und Indifferente« gewesen. 2005 unterschrieb sie einen revisionistischen Aufruf zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, veranlasst von dem rechten Verleger Götz Kubitschek. Im selben Jahr bat sie den ins rechte Lager abgedrifteten Journalisten Ulrich Schacht, in Sachsenhausen eine Ansprache zu halten. Schacht nahm die Einladung an und polemisierte gegen die bundesdeutsche Erinnerungskultur, wie Gutachter Bajohr erklärt. Schacht bescheinigte Außenminister Josef Fischer (Grüne) einen »sadistischen Charakter«, weil dieser das Gedenken an Auschwitz als Teil der Staatsräson bezeichnet hatte. Einen Aufruf gegen den Ausschluss der rechten Wochenzeitung »Junge Freiheit« von der Leipziger Buchmesse unterzeichnete Gisela Gneist ebenfalls.

Zu den Entgleisungen ihrer Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen gehörte 1996 der Plan einer Gedenkfeier für den Psychiater Hans Heinze (1895-1983). Der hatte im Speziallager gesessen und Insassen gepflegt. Heinze war aber von 1938 bis 1945 federführend an der sogenannten Euthanasie beteiligt. Unter seiner Leitung sind allein in der Klinik Brandenburg-Görden 1264 kranke Kinder ermordet worden.

Die Gedenkstätten-Stiftung und das Internationale Sachsenhausen-Komitee hatten vorher gewarnt. Trotzdem beschlossen die Stadtverordneten im Juni 2020, eine von acht neuen Straßen im Wohngebiet Aderluch nach Gisela Gneist zu benennen. Die Gisela-Gneist-Straße bildet zwei Kreuzungen ausgerechnet mit der Rosa-Broghammer-Straße. Broghammer litt im KZ, weil sie ein Kind mit einem französischen Kriegsgefangenen hatte. Im Sommer 1945 starb sie an den Folgen der Haft.

Die Linke konnte die Benennung seinerzeit nicht verhindern. Fraktionschef Ralph Bujok befürchtet, dass es auch jetzt keine Mehrheit für die Rücknahme des Beschlusses geben wird. Er hat Verständnis für die Opfer des Stalinismus. Sein eigener Schwiegervater war nach dem Krieg im Speziallager eingesperrt - »unschuldig«, wie Bujok betont. Er ist dafür, andere Straßen nach anderen Häftlingen des Speziallagers zu benennen.

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