- Berlin
- Rot-grün-rote Koalitionsverhandlungen
Autobahnen zu Stadtraum
Symbolträchtig und kleinteilig will sich Berlin der Verkehrswende nähern
Ein sehr symbolträchtiger Teil des rot-grün-roten Koalitionsvertrages hin zu einer Verkehrswende in Berlin findet sich im Kapitel Stadtentwicklung: Gleich zwei Autobahnen sollen »in Abstimmung mit dem Bund« schrittweise zurückgebaut werden. Zum einen die A103, die von Schöneberg nach Steglitz parallel zur S1 führt. Das würde einen sehr späten Sieg der 1974 gegründeten Bürgerinitiative Westtangente bedeuten, die sich seit jeher gegen den Bau und die geplanten Verlängerungen wandte. Zum anderen die einst als A104 bekannte Autobahn von Schmargendorf zum Breitenbachplatz. Hier setzt sich ein breites Bündnis bis hin zu prominenten CDU-Politikern bereits seit geraumer Zeit für den Abriss ein. Allein auf der Wilmersdorfer Autobahnfläche ließen sich nach Berechnung des bekannten Architekten Robert Patzschke 3000 Wohnungen errichten.
Die Koalition hat sich darauf verständigt, dass die Fortführung der A100 über den im Bau befindlichen Abschnitt zum Treptower Park bis nach Prenzlauer Berg nicht weiter vorangetrieben werden soll. Dem Fahrradclub ADFC Berlin reicht das allerdings nicht. »Berlin muss sich beim Bund für den Baustopp einsetzen, sonst schaffen wir die Klimaziele nicht«, sagt Katja Leyendecker vom Vorstandsteam des ADFC.
Doch für eine Mobilitätswende muss vor allem in der Fläche noch viel geschehen. Der ADFC begrüßt, dass SPD, Grüne und Linke sich darauf festgelegt haben, dass das Fahrradvorrangnetz und die geschützte Radinfrastruktur bis 2026 umgesetzt sein sollen.
Ein wichtiger Schritt zur beschleunigten Umsetzung dieses Vorhabens, genauso wie für die schnelle Umsetzung von Busspuren, ist die vorgesehene Zentralisierung der Zuständigkeit für die Hauptstraßen bei der Senatsverwaltung für Verkehr. Eine Maßnahme, die ADFC und der aus dem Fahrrad-Volksbegehren hervorgegangene Verein Changing Cities lange gefordert haben.
Bisher hat die Hauptverwaltung zwar die verkehrsrechtlichen Anordnungen dafür getroffen, war bei der Umsetzung aber auf die Bezirke angewiesen. Praktiker dämpfen die Hoffnungen auf einen schnellen Durchbruch allerdings. Denn noch hat die Senatsverkehrsverwaltung weder Planungskapazitäten noch Bauhöfe für die Umsetzung.
Lange überfällig ist auch die Erhöhung der Parkgebühren. Sie sollen spätestens zur Jahresmitte 2022 um einen Euro pro Stunde steigen. Ab 2023 sollen Anwohnerparkausweise 120 Euro pro Jahr kosten. Doch selbst die umgerechnet »33 Cent am Tag sind noch immer viel zu wenig und werden kaum eine Lenkungswirkung weg vom Auto hin zum Umweltverbund erreichen«, kritisiert der ADFC. Mindestens 240 Euro pro Jahr müssten mindestens verlangt werden. Linke-Landeschefin Katina Schubert wies bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am Montag explizit darauf hin, dass bei den 120 Euro Ermäßigungen nach sozialen Kriterien geprüft würden. Bisher werden eher symbolische 20,40 Euro für zwei Jahre fällig.
»Ich halte es für ausgesprochen positiv, dass alle Möglichkeiten für Tempo 30 auf den Straßen genutzt werden sollen«, sagt Roland Stimpel vom Fachverband Fuss zu »nd«. Doch ansonsten hält sich seine Begeisterung als Fußgängerlobbyist in engen Grenzen. »Die Koalition sieht den Fußverkehr als nette Veranstaltung, wo man da etwas tun kann, wo es niemanden stört. Was systematisch ausgeklammert ist, sind alle Konkurrenzen und Konflikte mit anderen Verkehrsarten«, kritisiert er. Für »fast schon verdächtig« hält er in diesem Zusammenhang das Ziel von »fußverkehrsfreundlichen Nebenstraßen« im Koali᠆tionsvertrag.
Jens Wieseke vom Fahrgastverband IGEB lobt, dass »Anregungen von uns den Weg in den Koalitionsvertrag gefunden haben«. Dazu gehört die umfassende Beschleunigung von Straßenbahnen und Bussen durch die Einrichtung eigener Spuren und »konsequente Vorrangschaltung« an Ampeln. »Das halten wir für mit die wichtigste Entscheidung überhaupt, um zügig den Nahverkehr attraktiver zu machen«, sagt er dem »nd«. »Ungeheuer wichtig« sei auch die Verankerung der geplanten Straßenbahnstrecken im Flächennutzungsplan, damit diese zum Beispiel durch unterdimensionierte Brücken nicht verbaut werden. »Was ich mir von einem nächsten Senat wirklich wünsche, ist, dass die BVG nicht so ein Eigenleben hat«, so Wieseke.
Bei der Umsetzung hängt viel auch davon ab, wer für die Grünen künftig die Verkehrsverwaltung führen wird. Oft genannt wird der bisherige Landesparteichef Werner Graf. Doch die Flügel- und Geschlechterarithmetik der Grünen bei der Besetzung der drei Senatsposten wird wohl wie üblich für Kopfzerbrechen und innerparteilichen Streit sorgen. Diese Probleme führten vor fünf Jahren zur Wahl von Regine Günther für dieses Amt. Eine Entscheidung, die viele Grüne bereuen.
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