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Wer bestimmt, was möglich ist?
Maak Flatten würdigt Willy Brandt als Außenminister der ersten Großen Koalition
Das hier zu besprechende Buch schließt nicht nur eine Lücke in der Historiografie über einen in vielfältiger Hinsicht äußerst interessanten Zeitabschnitt der Geschichte der Bundesrepublik. Der 1971 geborene Promovend der Bonner Universität rückt mit seiner Arbeit einen Bereich der Politik in den Blickpunkt, der gerade gegenwärtig (und eigentlich schon einige Zeit länger) immens an praktisch-politischer Bedeutung gewonnen hat.
Maak Flatten, der als Lehrer und als Dozent am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung arbeitet, legt - wohl naturgemäß ob seiner Profession - großen Wert auf methodisch-didaktische Gliederung seines Textes, was dessen Lektüre angesichts der Fülle der gebotenen Fakten, Daten und inhaltlichen Disputationen zweifellos erleichtert. Auf der Grundlage eines beeindruckenden Quellenmaterials aus allen relevanten Archiven, an erster Stelle das Brandt-Archiv, sowie mit gebotener Quellenkritik, sei es bei persönlichen Interviews mit Zeitzeugen oder auch hinsichtlich der ausgewerteten Sekundärliteratur, ist eine sehr differenzierte Darstellung entstanden: Sie zeigt das Bemühen des sozialdemokratischen Politikers und ersten Chefdiplomaten der SPD, des späteren Bundeskanzlers Willy Brandt um Lösung kontroverser Positionen bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik in den konfliktreichen 60er Jahren.
Unausgesprochen dem Grundsatz der historisch-materialistischen Methodologie folgend, die Geschichte wie auch das Wirken von Menschen in dieser nicht von ihrem Ende her zu betrachten, ist der Verfasser der Gefahr entgangen, seinen Protagonisten als ein »überlebensgroßes Denkmal« zu porträtieren - »so schwer es fallen mag, den Außenminister Willy Brandt zu betrachten, ohne den Bundeskanzler zu sehen«. Flatten macht Brandt den Platz nicht streitig, den andere Autoren ihm neben Otto von Bismarck, Gustav Stresemann und Konrad Adenauer als Außenpolitiker zuweisen, weist aber auch auf die zeitbedingten Metamorphosen von dessen Ansichten hin. Er übersieht allerdings meines Erachtens den Ausgangspunkt eines Lernvorgangs: den Bau der Berliner Mauer.
Allein 200 Seiten widmet Flatten Brandts Spagat zwischen Bilateralismus und Multilateralismus, seiner Politik in Bündnissen und gegenüber den Verbündeten; auf 300 befasst er sich mit der Neuen Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition, mit jenen Fragen, die sich gerade auch aus der Haltung und Erwartung der sowjetischen Siegermacht ergaben. Hier zeigt sich besonders der Vorzug, Geschichte nicht als Prolog späterer Ergebnisse zu verstehen, wie vom Mainstream der Historikerzunft zumeist praktiziert, wodurch der Mauerfall und das Zusammenwachsen dessen, »was zusammengehört«, als angeblich einzig mögliche, weil deterministisch vorbestimmte Folge einer Strategie erscheinen. Angedachte Alternativen der offenen Geschichte stellen sich dann als Verirrungen dar, jenseits der vermeintlich einzig richtigen Option des Sieges westlicher Demokratie über den »Totalitarismus«.
Es finden sich bei Flatten auch viele nützliche, anregende Ansatzpunkte für die Geschichtsschreibung zur Westpolitik der DDR. Das kann den (»gutwilligen«) Historikern bzw. den aus der DDR stammenden Vertretern der Gilde helfen, noch weitgehend ungelöste Probleme des Gegen- und bedingten Miteinanders ost-west-deutscher Deutschlandpolitik besser zu erfassen und die 40-jährige DDR-Geschichte als normalen Bestandteil einer zutiefst widersprüchlichen und zugleich ganzheitlichen deutschen Nachkriegsnationalgeschichte zu verstehen und darzustellen. Überdies: Trotz aller Spezifika der weltpolitischen Umstände zu Brandts Zeiten drängen sich Vergleiche grundlegender Positionen und Erfahrungen des sicher wirkungsreichsten Außenpolitikers der Bundesrepublik mit jenen heutiger Akteure auf, die für Letztere eher bescheiden ausfallen.
Der Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialbereichs Anfang der 90er Jahre hat ein für ganz Europa, für die ganze Welt bedeutsames Scharnier bewegt. Inzwischen dürften große Teile der Bevölkerungen in den vom Untergang des Realsozialismus betroffenen Ländern oder zumindest Teile ihrer politischen und intellektuellen Elite die Erkenntnis gewonnen haben: Die Türen wurden nach der falschen Seite geöffnet.
Für Brandt und seine praktische Politik waren und blieben feste Überzeugungen leitend, so die Notwendigkeit internationaler Rüstungskontrolle, ein System kollektiver Sicherheit, eine atlantische Partnerschaft à la John F. Kennedy, in der die USA (anders als später) mit einem selbstbewussten, unabhängigen Europa auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Aber auch die Vision des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle von einem Europa der »Vaterländer«, ohne weitgehenden Verlust der nationalen Souveränität. Und die Nichtweiterverbreitung der Atomwaffen, einschließlich des Verzichts Deutschlands auf solche. Brandts moralisches Credo war es, einstige Feinde in Freunde zu verwandeln.
Angesichts der Fülle aktuell ungelöster außen- und sicherheitspolitischer Probleme sollte ein Studium der vom Außenpolitiker (und späteren Kanzler) Willy Brandt demonstrierten Klugheit und seines politischen Mutes ein Muss für heute praktizierende Außenpolitiker sein. Flatten hat dazu ein passendes Zitat seines »Helden« aus dessen späten Jahren parat, aus seinem letzten, unveröffentlicht gebliebenen Buchprojekt: »Erfahrungen mit Außenpolitik nicht nur des eigenen Landes haben mich gelehrt, wie hohl und irreführend das vielzitierte Wort von der Politik als Kunst des Möglichen ist. Wer bestimmt, was allein als möglich gelten soll? Und wer will verhindern, dass versucht wird, das zunächst als unmöglich Erscheinende doch möglich werden zu lassen?«
Maak Flatten: Scharnierzeit der Entspannungspolitik. Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition (1966-1969). J.H.W. Dietz, 760 S., br., 64 €.
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