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Killer und Opfer

Zum Geleit

  • Lesedauer: 9 Min.

Hass war nur eine Legende / Krieg unbekannt / Die Leute arbeiteten zusammen /
Hoben viele Steine / Transportierten sie zum Tiefland / Viele starben dabei /
Aber sie erbauten mit bloßen Händen / Was wir bis heute nicht schaffen /
Und ich weiß, dass sie dort lebt / Und sie liebt mich bis zum heutigen Tag /
Ich kann immer noch nicht erinnern, wann / Oder wie ich meinen Weg verloren hab. /
Er kam über das Wasser getanzt / Cortez, Cortez / Was für ein Killer.
Neil Young (1975), »Cortez the Killer«

Im Königreich Spanien, noch unter der Franco-Regentschaft 1975, geriet das Songepos »Cortez the Killer« auf die Verbotsliste der Diktatur. Neil Young beschrieb darin die Hochkultur der Azteken, in die die Mörder aus Übersee einfielen. Der kanadische Musiker und Dichter projizierte seine eigenen Vorstellungen von einer lebenswerten Zukunft auf die vorkoloniale Vergangenheit Amerikas - ein Denkanstoß aus der Nach-Hippie-Phase der 68er. Er wirkte anregend für retrospektiv-phantastische Ausflüge in eine andere Welt und deutete zugleich die Dimension des Verlusts an, den der Angriff des Kolonialismus auf ein florierendes Gemeinwesen angerichtet hatte.

Kaiserstraße

Das deutsche Kolonialimperium war ein Spätstarter, der früh scheiterte. Ab 1884 etablierte sich das Kaiserreich in Afrika, Nordostchina und im Pazifik - im Ersten Weltkrieg verlor es sämtliche Kolonien wieder. Doch gab es ein Davor und ein Danach. Die deutschen Kolonialverbrechen sind nicht vergessen in Namibia und Kiautschou, Kamerun und Tansania, auf Samoa und Neuguinea. Die koloniale Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.

Bis 1914 brach der deutsche Kolonialismus drei Kriege vom Zaun. Sein Völkermord in Südwestafrika ist inzwischen wieder präsent, der in Südostafrika wird weiterhin verdrängt. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwand zwar der Kaiser, aber nicht die Kaiserstraße. Deutscher Kolonialismus? Das Thema wurde 100 Jahre lang verdrängt. Gerd Schumann erzählt seine Geschichte.

Mit seiner sympathisierenden Idealisierung der von Fremdherrschaft noch unbehelligten Gesellschaftsformationen und deren - sehr persönlich gefasste - Transformierung in die Gegenwart bewirkt Young einen seltenen, äußerst schönen Effekt beim Zuhörenden. Der Sänger lenkt das Interesse auf eine durchaus vorstellbare, vielleicht reale Lebensweise, die nicht nur physisch beseitigt wurde: Sie sollte mit allem, was sie ausgemacht hatte, was auf eine gewachsene, hochentwickelte Kultur hindeutete, was vielleicht sogar als eine Form »kommunistischer Gemeinschaft« (Franz Josef Degenhardt, »Inka Lied«) interpretiert werden konnte, auf immer verschwinden. Sich erinnern kann bedeuten, eine bessere Vergangenheit als Vorbild für eine bessere Zukunft zu verstehen.

Der Zeitenbruch, der sich mit der Invasion der Kolonisatoren auf den Kontinenten der südlichen Erdhalbkugel und auch in Nordamerika vollzog, blieb bis heute ein seltsam anonymer Vorgang. Zwar tauchen am Rande der Geschichte auch Täter und Opfer auf, es fließt Blut, es wird geplündert und gebrandschatzt; jedoch wird das Verbrechen, das das vorkoloniale Zeitalter, also eine tendenziell eher friedliche Epoche, beendet, nahezu vollständig verdeckt von einem Schleier, gewoben aus Schlagworten wie: »Fortschritt« oder »Zivilisation«, »Christentum« oder »segenreiches Wirken«. Hinter ihm verschwinden die vorher gelebte Wirklichkeit, die Kulturen, das gesellschaftliche Sein. Oder die Verhältnisse werden umgedichtet zum Gegenpol der vorgeblichen Kolonialerrungenschaften: Dann ist von »Wilden« oder »Primitivität« die Rede.

Die indigenen Gesellschaften, so Rosa Luxemburg, werden mit negativen Begriffen belegt, die Entwicklungsphase der früheren Menschheit ohne Privateigentum wird gleichsam dargestellt als »eine minderwertige, beschämende Vorstufe der Zivilisation, eine halb tierische Existenz, auf die die heutige Kulturmenschheit nur mit herablassender Geringschätzung blicken kann«. Und eben jene behauptete »Zivilisation« sei schließlich als das »eigentliche gesittete, das menschenwürdige Leben der Gesellschaft« vermittelt worden - und also eine Sichtweise auf die Geschichte, die noch heute kursiert. (Luxemburg, Bd. 5: 607) Sie dient der Legendenbildung und verstellt die Wahrheit.

Schließlich seien die Konquistadoren, konstatiert der Historiker Howard Zinn, »nicht in eine öde Wildnis« gekommen, »sondern in eine Welt, die teilweise genauso dicht besiedelt war wie Europa selbst, wo die Kultur komplex, die zwischenmenschlichen Beziehungen gleichberechtigter waren als in Europa, und wo das Verhältnis zwischen Männern, Frauen, Kindern und der Natur vielleicht wunderbarer geordnet war als irgendwo sonst auf der Welt.« (Zinn 2007: 28) In der Behauptung der Kolonisatoren, ihre Zivilisation sei überlegen und müsste den Unterliegenden aufgezwungen werden, spiegelt sich die Arroganz von Macht.

Bis heute beschäftigen sich die Geschichtswissenschaften meist nur oberflächlich - oder eben relativierend - mit einst existenten Formen des Zusammenlebens, die Eroberern wie Hernán Cortés (1485-1547) in die Hände fielen; oder den vielen anderen enthemmt wütenden Killern, die aus der Alten Welt mit ihren Kanonen und Gewehren und ihrem Know-how übers Wasser des Ozeans »getanzt« kamen, nach Westafrika, in die Südsee, nach China und eben in die Amerikas von Neil Young, zu den indigenen Völkern des Nordens, zu den Azteken nach Mexiko. Oder zu den Aruak und Kariben in »Klein-Venedig«, wie das von Christoph Kolumbus auf seiner dritten Amerika-Reise 1498 entdeckte Venezuela genannt wurde.

Dort erledigte dann, dreißig Jahre später, das deutsche Patriziergeschlecht der Welser, eines der reichsten Handelshäuser Europas, den Rest des Vernichtungswerks an der Bevölkerung. In »Welserland« Venezuela, das den Deutschen 1528 vom spanischen König Carlos I., als Karl V. zugleich deutscher Kaiser, übertragen worden war, und auf den Karibikinseln entstanden Zuckerrohrplantagen, zwangsbewirtschaftet von den versklavten Ureinwohnern. Als »hervorragende Bodenbauer« hatten diese »vor Ankunft der Europäer vom oberen Rio-Negro-Gebiet aus weite Regionen« landwirtschaftlich erschlossen. (Meyers Neues Lexikon 1972, Bd. 1: 509) Die Kariben waren zudem hervorragende Seefahrer und Fischer, in deren Einbäumen bis zu 50 Mann Platz fanden. Nun wurden sie und ihre Kultur von den ersten deutschen Kolonisierern verstümmelt und vernichtet - durch Zwangsarbeit, Misshandlungen, Unterernährung, Seuchen. In manchen Gegenden überlebte niemand von ihnen.

Leid kam über die Menschen und Gesellschaften. Geschichte und historische Überlieferungen eines ganzen Kontinents blieben auf der Strecke, gestrichen aus dem Weltgedächtnis. Niemand der Entdecker, Forscher, Abenteurer, Missionare aus der nördlichen Hemisphäre traf in der südlichen auf menschenleere und ungenutzte Gebiete, überall existierten Gesellschaften. Auch der Brandenburger Kurfürst Friedrich Wilhelm drang in sie ein, als er 1682 die Festung Groß Friedrichsburg am Golf von Guinea errichten ließ. Er tat es mit, unter anderen, dem erklärten Ziel, mit »schwarzem Elfenbein« handeln zu wollen, mit entführten Afrikanern, die als Stückgut verpackt und als Waren verkauft, Portugal, Holland, England und Frankreich reich machten.

Allein der deutsche Kolonialismus führte im historisch kurzen Zeitraum seiner Existenz als Kolonialreich drei große Kriege in China und Afrika, schlug Dutzende Aufstände nieder, plünderte und vergewaltigte und etablierte seine Herrschaft mit einer Grausamkeit, die retrospektiv betrachtet kaum fassbar ist. Die Dimension der Unterdrückung ist so ungeheuer, dass Verdrängung und Verharmlosung den Umgang mit ihr prägen. »Der menschliche Geist steht ratlos und gebannt da vor seiner eigenen Schöpfung«, zitiert Rosa Luxemburg Lewis Henry Morgan.

Der Völkerkundler und Soziologe Morgan (1818-1881) hatte nach Feldforschungen bei den irokesischen Völkern Nordamerikas in seiner Arbeit »Die Urgesellschaft« die allgemeine, vorkoloniale Existenz gemeinschaftlichen Eigentums an Grund und Boden nachgewiesen. Es verschwand mit dem - von Mord und Totschlag begleiteten - Eintreffen der Gier.

»Er kam über das Wasser getanzt / Cortez, Cortez / Was für ein Killer« - dieses Buch über die deutsche Variante des Kolonialismus, der die Herrschaft des Reichtums voraussetzt und sich als »Zivilisation« bezeichnet, ist allen kolonialen Opfern gewidmet.

Vorwort

Auf der Kaiserstraße damals

Weit südlich des Äquators, am Wendekreis des Steinbocks, liegt der November im Frühsommer. Die Sonne brennt, heftige Windböen treiben vertrocknete Dornbüsche und Sträucher über die breite Teerlandstraße vor der Hauptstadt, schnurstracks gezogen durch trockenes, gräserbewachsenes, weites Savannenland. Eine Szene, bizarr und spröde. So erinnere ich Namibia 1989, so sieht es im Südwesten Afrikas außerhalb der Regenzeit häufig aus. Und doch war dieses Jahr besonders. Die - neben der Westsahara - letzte Kolonie Afrikas sollte endlich und tatsächlich unabhängig werden.

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als »Deutsch-Südwestafrika« die einzige Siedlungskolonie des Deutschen Reiches, danach unter südafrikanischer Kontrolle, erlebte Namibia fünf aufregende Wahltage. Erstmals in der Geschichte durften ausnahmslos alle Einwohner, und auch die Tausenden nun zurückkehrenden »Exilees« (politische Flüchtlinge), über ihre Zukunft abstimmen; eben jene fast 95 Prozent der Bevölkerung mit anderer Hautfarbe als der weißen. Unter UN-Aufsicht wurde über die 72 Sitze einer Verfassunggebenden Versammlung entschieden, über ein Parlament, das den Namen auch verdienen sollte. Überall waren Pollingstations eingerichtet, die Menschen harrten geduldig davor aus, oft in langen Schlangen und mit aufgespannten Schirmen zum Schutz gegen die heiße Sonne, hoffend auf ein neues Namibia, Landriese am Atlantik: Die damalige BRD hätte über dreimal, die DDR achtmal in dessen Fläche gepasst.

Und plötzlich taucht die Stadt auf, einer Fata Morgana in der dürren Wildnis gleich. Gepflegte, grüne Oase mit Bauwerken aus Stein, Glas und Beton links und rechts der »Kaiserstraße«, manche Prachthäuser im Kolonialstil von vor hundert Jahren dazwischen. Windhoek, die »windige Ecke«, gelegen in einem weiten Tal zwischen den Onjati-Erosbergen im Nordosten, dem Khomas-Hochland im Westen und den südöstlichen Anas-Bergen. Hier scheint so manches wie zu Kaisers Zeiten zu sein - demnächst wird sogar Weihnachten gefeiert werden mit Tannenbäumen, Lichterketten, erzgebirgischem Schwibbogen, mit »Stille Nacht« und »Schneeflöckchen«. Aber natürlich ohne Schnee.

»No more Burenland«, »Nie wieder Burenland« skandieren die Menschen vor dem Luxushotel Hilton Windhoek. Sie begrüßen auf ihre Art einige hochrangige Besucher aus dem Staat der Apartheid nebenan, sind aus dem Township Katutura von außerhalb der Stadt gekommen. »Katatura« heißt übersetzt aus der Sprache der Herero so viel wie »Der Ort, an dem wir nicht leben möchten«. Einige von ihnen waren bereits 1959 dabei gewesen, beim Aufstand in ihrer angestammten Siedlung »Old Location« (Alte Werft). Viele Menschen starben damals in dem Massaker am 10. Dezember, darunter die Aktivistin Anna Mungundu. Viele wurden verletzt. Es war die Geburtsstunde der südwestafrikanischen Befreiungsbewegung SWAPO (South-West Africa People’s Organisation). Noch vor nicht allzu langer Zeit durften die Schwarzen Windhoek abends nach sechs Uhr nicht mehr betreten. Die Stadt sollte »weiß werden«, sie wurde weiß gemacht, Old Location geräumt und eingeebnet.

Das ist Geschichte aus einer Zeit, die gerade abgewickelt wird, so scheint es. Doch plötzlich plärrt deutsche Schlagermusik aus dem Kofferradio, fremde Klänge dröhnen über die geschäftige Kaiserstraße. »Das ist die Berliner Luft« und »Ich hab’ so Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm«, vom »Koffer in Berlin« wird gesungen an diesem 10. November 1989, ausgestrahlt vom deutschsprachigen Sender der Southafrican Broadcasting Corporation (SABC) in der Pettenkoferstraße, Windhoek-West. Die Berliner Mauer sei gefallen, heißt es im Trubel um die Wahlen. Ungläubiges Kopfschütteln, Nachdenklichkeit in einer Doppelwende-Situation. Die einen werden unabhängig, die anderen werden - ja was …?

Gerd Schumann: Kaiserstraße. Der deutsche Kolonialismus und seine Geschichte
239 Seiten, Paperback 16,90 EUR
ISBN: 978-3-89438-764-8 Erschienen im Verlag Papyrossa

Gerd Schumann wurde 1951 im holsteinischen Wilster geboren. Er war viele Jahre Redakteur und Korrespondent für verschiedene deutsche Tageszeitungen und veröffentlichte viele Reportagen und Hintergrundberichte vom afrikanischen Kontinent, aus der Karibik und vom Balkan. Sein Schaffen umfasst auch zahlreiche Buchpublikationen. Schumann lebt als Autor in Berlin und Mecklenburg.

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