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»2025 holen wir uns den Rest«
Physiotherapeutin Lynn Stephainski spricht über den Arbeitskampf der Tochterbeschäftigten und die Zukunft der Krankenhausbewegung
»Nach dem Streik ist vor dem Streik« - das unter Gewerkschafter*innen beliebte Motto trifft laut Physiotherapeutin Lynn Stephainski auf den zunächst durchgestandenen Arbeitskampf der Berliner Krankenhausbewegung zu. Nach der Einigung zwischen der Gewerkschaft Verdi und dem landeseigenen Krankenhauskonzern Vivantes gebe es weiterhin Forderungen der Beschäftigten, die noch nicht komplett erfüllt seien. »Wir haben aber grundsätzlich ein gutes Ergebnis erzielt und es ist eine sehr gute Entwicklung passiert«, sagt sie.
Stephainski hat gerade Feierabend. Eiligen Schrittes kommt die 32-jährige Physiotherapeutin vom Gelände des von Vivantes betriebenen Auguste-Viktoria-Klinikums in Schöneberg. Ihr Arbeitstag war »in Ordnung, aber stressig«, denn aktuell arbeitet sie alleine in der neurologischen Physiotherapie, ihre Teamkollegin ist ausgefallen. »Das ist natürlich blöd, wenn dann vor allem Einzeltherapien verschoben werden müssen«, sagt Stephainski. Eigentlich soll ihr Team aus vier Therapeut*innen bestehen, zwei Stellen sind vakant. In der Vergangenheit sei es schwierig gewesen, Stellen zu besetzen, aber das werde sich zukünftig ändern, glaubt die Physiotherapeutin. »Mit den besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen ist das ein deutlich attraktiveres Jobangebot, wir haben schon einen größeren Zulauf an Bewerbungen, als in den Jahren zuvor«, so Stephainski.
Der Arbeitgeber ist die Vivantes Rehabilitation, eine Tochtergesellschaft des landeseigenen Krankenhauskonzerns. Von Anfang September bis Ende Oktober mussten die Beschäftigten der Tochterunternehmen gemeinsam streiken, um wie die Angestellten beim landeseigenen Mutterkonzern gemäß dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) bezahlt zu werden. »Es war ein sehr schwieriger Weg bis hierhin. Zwischendurch dachte ich, das wird gar nichts mehr«, sagt die Physiotherapeutin. Nun seien aber doch »riesige Schritte in die richtige Richtung« erreicht worden, denn Verdi und Vivantes konnten sich schließlich auf ein Eckpunktepapier als Grundlage für einen Tarifvertrag der Beschäftigten der Töchter einigen.
»Wir von der Reha hatten vorher überhaupt keinen eigenen Tarif, wir hatten nur Entgelttabellen vom Arbeitgeber«, sagt Stephainski. Unter den Physiotherapeut*innen gab es Lohnunterschiede von bis zu 1300 Euro, je nach Anstellung bei Vivantes direkt oder der Tochtergesellschaft. Das wird sich nun ändern. Die Reha-Beschäftigten steigen zum 1. Januar mit 90 Prozent des Gehalts laut TVöD ein, bis sie zum Ende der Laufzeit 2025 bei 96 Prozent angekommen sind.
Die Verhandlungen mit Vivantes waren nervenaufreibend und oft frustrierend, berichtet Stephainski. Ein größerer Konfliktpunkt war die Entgeltordnung: »In der TVöD-Tabelle gibt es sechs Stufen und das wollten sie uns ganz lange nicht geben. Ich bin fast vom Glauben abgefallen, als sie endlich zugestimmt haben«, sagt sie. Eine besonders große Verbesserung stellt das Eckpunktepapier für die Beschäftigten der Reinigung und Speiseversorgung dar. »Die Kolleg*innen verdienen bisher unter dem Landesmindestlohn, das kann ja eigentlich auch nicht sein«, sagt Stephainski.
Die Physiotherapeutin selbst bekommt mit dem neuen Vertrag zwischen 200 und 300 Euro brutto mehr im Monat, sagt sie. Außerdem wird sie zum ersten Mal Zulagen für den 24. und den 31. Dezember und eine Jahressonderzahlung erhalten. »Sehr gut ist auch für uns alle, dass wir im Krankheitsfall eine Lohnfortzahlung bis zur 39. Woche erhalten und nicht wie üblich nur bis zur sechsten Woche«, so Stephainski.
Trotz allem sei noch Luft nach oben. Denn das Ziel, 100 Prozent des TVöD für alle Tochterbeschäftigten zu erkämpfen, konnte noch nicht erreicht werden. »Das ist aber schon ein sehr guter Anfang, 2025 holen wir uns dann den Rest!«, kündigt Stephainski an. Letztendlich wäre es durchaus wünschenswert, alle Tochtergesellschaften rückzuführen zur Mutter Vivantes. Überhaupt findet die Physiotherapeutin, ein Krankenhaus wäre besser in kollektiver Hand, als unter Kontrolle einer Unternehmensführung, die nicht für alle Entscheidungen das benötigte Wissen habe. Als Beispiel nennt sie eine Situation, in der sie erst nach mehrmaligem Nachhaken die verantwortlichen Vorgesetzten davon überzeugen konnte, dass der Raum, in dem sie Gruppentherapien durchführt, zu klein für die Anzahl an angemeldeten Patient*innen ist. »Warum glauben mir die Leute nicht gleich, wenn ich ihnen sage, dass wir zu wenig Platz haben? Ich muss es doch wissen als Übungsleiterin«, sagt sie.
Solche Situationen könnten einfacher gelöst werden, indem die Menschen, die die Entscheidungen direkt betreffen, auch an ihnen gleichberechtigt beteiligt seien und die Beschäftigten den Betrieb selbst verwalten würden, findet Stephainski. »Ich habe aber auch ganz persönlich ein Problem mit Autoritäten. Ich habe keinen größeren Respekt vor Menschen, nur weil sie ranghöher sind. Vor allem, wenn sie sich dann respektlos mir gegenüber verhalten«, sagt sie. Deshalb habe sie das Verhalten der Vivantes-Geschäftsführung während des Arbeitskampfes nachhaltig frustriert. »Ich hatte das Gefühl, den Beschäftigten wurde überhaupt nicht zugehört. Da musste der Konflikt erst bis zum Streik eskalieren, bis endlich auf uns zugegangen wurde.«
Im Gegensatz dazu habe sie der Arbeitskampf aber ihren Kolleg*innen in der Reha ein ganzes Stück nähergebracht. »Vorher habe ich mich vor allem mit meinem Team super verstanden, aber inzwischen kennt man sich im ganzen Betrieb viel besser untereinander. Wir haben einen deutlich höheren Zusammenhalt durch die Krankenhausbewegung erreicht«, sagt sie. Stephainski selbst habe bei Treffen der Reha-Betriebsgruppe davon erfahren, dass die Pflegekräfte sich gewerkschaftlich organisieren für einen Tarifvertrag Entlastung und auch die Tochterbeschäftigten für den TVöD mitkämpfen sollen. »Ich bin dann direkt im Koordinationsteam eingestiegen und hab mich später als Vertrauensperson und in die Tarifkommission wählen lassen«, so Stephainski. Den Arbeitskampf zusammen mit den Pflegekräften bei Vivantes und Charité zu führen, sei die richtige Strategie gewesen, findet sie. »Wir sind ein Krankenhausbetrieb und eine Belegschaft und wir müssen zusammen kämpfen«, so die Physiotherapeutin.
Die strukturellen Probleme in der Gesundheitsversorgung sind durch die Einigungen mit Vivantes und Charité nicht gelöst, aber immerhin haben sie die konkrete Situation der überlasteten Pflegekräfte und unterbezahlten Tochterbeschäftigten der landeseigenen Krankenhausunternehmen in Berlin ein ganzes Stück verbessert. »Jetzt liegt es an allen Beteiligten und Beschäftigten im Gesundheitswesen und Aktivst*innen, sich weiter zu organisieren und Druck zu machen«, sagt sie. Da gibt es zum Beispiel das Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite, das den Arbeitskampf der Krankenhausbewegung tatkräftig unterstützt hat. Die Politiker*innen sieht sie in der Verantwortung, nun die entscheidenden Gesetze auf den Weg zu bringen: »Es ist endlich an der Zeit, dass Krankenhausfinanzierung und medizinische Daseinsvorsorge einen größeren Stellenwert bekommen und besser finanziert werden. Das Fallpauschalensystem muss abgeschafft werden«, sagt sie.
Die Tarifkommission der Tochterbeschäftigten wird sich nach Fertigstellung des Vertrags zum 15. Dezember und dessen Abstimmung nur noch wenige Male treffen müssen, um Probleme bei der Eingruppierung oder ähnlichem zu lösen, schätzt Stephainski. »Danach werden wir uns in den einzelnen Betriebsgruppen weiter für die Belange der Beschäftigten einsetzen.«
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