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Verwischte Spuren
Tausende Kinder aus Indonesien oder Südamerika wurden in den 80er Jahren in den Niederlanden über Agenturen adoptiert. Doch die Dokumente sind unvollständig. Die Angaben zu ihrer Herkunft führen ins Nichts. Zurück bleiben Menschen, die zwischen den Welten stehen
Das erste Foto erzählt die ganze Geschichte. Ein dunkelhäutiger Winzling in einer viel zu großen Windel wird von einer dunkelhäutigen Frau im Sari einem weißen Paar in die Arme gelegt. Da ist Dilani Butink wenige Tage alt, das Paar sind ihre niederländischen Adoptiveltern. Das Foto ist in einem Hotel in Sri Lanka entstanden, wenige Wochen später reisen sie alle drei aus.
Sie wächst in Nijverdal auf. Dort gibt es neben ihrem Bruder, der ebenfalls adoptiert und biologisch nicht mit ihr verwandt ist, keine dunkelhäutigen Kinder. »Ich bin zu braun, um Niederländerin zu sein«, sagt sie. Heute wohnt die 29-Jährige in Amsterdam und arbeitet als Fotografin. In ihrer Wohnung zeigt sie die Dokumente, die ihr Leben zusammenfassen: ein Baby-Bilderalbum und zwei dicke Pappordner mit Papieren.
Was nach viel aussieht, ist eigentlich nichts. Denn Aktenzeichen, Daten und Namen stimmen nicht. »Ich bin 2015 in Sri Lanka gewesen und habe in Geburtenregistern und Akten der Adoptionsstelle geschaut. Eine Person mit dem Namen und Geburtsdatum meiner Mutter gibt es nicht. Die Aktenzeichen auf meinen Dokumenten werden in Colombo bei einem anderen Kind geführt.«
2017 habe sie eine Dokumentation des Fernsehsenders »BNNVara« über Auslandsadoptionen gesehen. »Ich wusste nun, dass ich nicht verrückt bin mit meinem Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Es gibt Tausende wie mich.« Das bestätigen auch Untersuchungen eines Komitees der niederländischen Regierung. Diese wurden 2018 in Auftrag gegeben und im Februar 2021 veröffentlicht. Sie zeigen, dass von 1957 bis 2019 mehr als 40 000 Kinder in den Niederlanden das Gleiche erlebt haben. Sie stammen aus 80 verschiedenen Ländern, die meisten aber aus China, Kolumbien, Sri Lanka und Indonesien. Der Höhepunkt der Adoptionen aus dem Ausland war 1981, in dem knapp 1600 Kinder vermittelt wurden. 2004 gab es nochmals einen Anstieg auf 1400, danach fällt die Kurve kontinuierlich ab.
Die damaligen Umstände vor Ort bleiben wie bei Dilani Butink unklar. Die Recherchen der Journalist*innen von »BNNVara« haben ergeben, dass Kinder verkauft und den leiblichen Eltern falsche Versprechungen gemacht wurden oder dass ihnen der Tod des Babys vorgegaukelt wurde. Mit dem Bekanntwerden der Ergebnisse der Untersuchungen hat die Regierung festgelegt, internationale Adoptionen sofort einzustellen. Die vom Staat an die Agenturen vergebenen Lizenzen sind nicht länger gültig.
Agenturen zur »Rettung von Kindern«
Das betrifft auch die Agentur »Kind und Zukunft«, über die Dilani Butink an ihre Eltern vermittelt wurde. Butink liegt die Rechnung vor, die 1991 für sie ausgestellt wurde: Die Summe betrug knapp 7300 Gulden, was heute rund 3500 Euro entspricht.
Die Organisation hat bis Oktober 2020 ihre Dienste angeboten. Die Homepage ist weiterhin online. Dort steht: »Wir haben es uns zum Ziel gemacht, Kindern in Not zu helfen. Wir tun dies durch die Vermittlung zwischen Personen, die in den Niederlanden wohnhaft sind, und Kindern, die in ihren Geburtsländern keine Chance haben auf eine menschenwürdige Zukunft oder in ihrer Existenz gefährdet sind.«
Ein Fotoalbum auf der Webseite zeigt lächelnde Kinder aus China, Lesotho, Polen, Nigeria und Kongo. Außerdem ist noch eine Preisliste verfügbar. Im Vergleich zu der Zeit, als Familie Butink Dilani adoptierte, waren die Kosten erheblich gestiegen - auf mehr als 16 000 Euro. Beinahe die Hälfte der Summe ging als »Bürokosten« an die Agentur. Bevor Auslandsadoptionen in den Niederlanden untersagt wurden, gab es noch drei weitere Agenturen, die über eine Lizenz verfügten.
Den Erfolg solcher Agenturen erklärt Butink sich mit dem sogenannten »White Saviour Complex«, also der Überzeugung weißer Menschen, Kinder aus - in ihrer Vorstellung unterentwickelten - Ländern retten zu müssen. »Auch meine Mutter hat Schwierigkeiten, zu sehen, was bei meiner Adoption falsch gelaufen ist. Mein Vater hat da mehr Verständnis. Meine Mutter hat mir gesagt, dass sie dunkelhäutige Babys adoptieren wollte, weil sie sie so niedlich finde. Manchmal fühlt es sich für mich an, als wäre ich ein Projekt für sie.«
Ein Muster, das Kristen Cheney gut kennt. Sie ist Anthropologin und Professorin am »International Institute of Social Studies« an der Erasmus Universität Rotterdam und beschäftigt sich seit Jahren mit dem problematischen System internationaler Adoptionen. Cheney sagt: »Um das Wohl des Kindes geht es nicht, sondern um den individuellen Kinderwunsch.« Dabei, so die Expertin, käme es darauf an, um was für ein Kind es sich handle. »Niemand möchte ältere Straßenkinder, die schwierig werden könnten. Am größten ist die Nachfrage stattdessen nach gesunden, möglichst jungen Babys. Die sind auch bei den meisten Agenturen am teuersten. Ist ein Kind allerdings HIV-positiv, sind die Kosten schon erheblich geringer.«
Cheney sieht in der Vorstellung, ein Baby retten zu müssen, Strukturen von Neokolonialismus. »Viele Agenturen werben heute noch, wenn es beispielsweise um Kinder aus Uganda oder Ruanda geht, mit Begriffen wie Kriegswaisen - dabei ist der Krieg lange vorbei.« Innerhalb dieses Systems der Auslandsadoptionen werde vor allem der Wunsch des Wohltäters angesprochen, sich als (Lebens-) Retter eines Kindes zu sehen. »Kinder werden hier zum Objekt der Wohltätigkeit gemacht. Würde es wirklich um das Wohl eines Kindes gehen, könnte derjenige ja auch ein Kind im eigenen Land adoptieren.«
Zwar würden Familien oft angeben, dass strenge Regeln im eigenen Land eine Adoption erschweren würden, weshalb sie auf eine internationale Adoption außerhalb der EU ausweichen würden, sagt Cheney. Aber es läge auch daran, dass in der EU immer weniger gesunde Säuglinge zur Adoption freigegeben würden. Außerdem gäbe es innerhalb der EU strengere Kontrollen, gemäß der Haager Übereinkunft von 1993 über die internationale Zusammenarbeit bei Adoptionen. Eltern würden sich dann auf anderen Kontinenten umsehen. »Darum lautet mein Argument, dass diese Nachfrage nach gesunden Babys ein Angebot kreiert, das Korruption und Betrug bei internationalen Adoptionen fördert.«
Die Untersuchungen der genannten unabhängigen Kommission zeigen auch, dass die Nachfrage nach inländischen Adoptionen stark abgenommen hat, von rund 500 abgeschlossenen Fällen im Jahr 1977 bis zu 150 Fällen 2019. Auch ausländische Adoptionen lagen 2019 nur noch bei rund 200 Fällen. »Dieser Rückgang wird auch durch Möglichkeiten wie künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft unterstützt«, so Cheney.
Ein »besseres« Leben bieten
Zu den neokolonialistischen Vorstellungen gehöre auch, dass es sich bei den meisten der adoptierten Kinder um Waisen handele. Laut Cheney stimme das nicht. »Nach Schätzungen von Unicef haben 80 Prozent der Kinder in den Waisenhäusern in Afrika oder Asien Eltern oder Familienmitglieder in ihrem Umfeld.« Die Waisenhäuser würden von der ärmeren Bevölkerung genutzt, weil sie kostenlose Versorgung und Schulbildung versprechen. »Die Eltern werden bewusst falsch informiert«, erklärt Cheney. Ihnen werde gesagt, dass die Kinder beispielsweise in der Hauptstadt auf eine Schule gingen - während sie gleichzeitig zur Adoption freigegeben werden.
Viel nachhaltiger wäre es aus ihrer Sicht, die Gelder stattdessen an örtliche Familien zu spenden, um ihnen aus der Armut zu helfen. Denn die sei der Grund, warum Kinder in zweifelhaften Waisenhäusern landen würden. »Aber im Fall eines Kinderwunsches ein Kind ›zu retten‹ gibt nun mal ein besseres Gefühl.« Zu der Frage, ob in diesem System im besten Interesse der Kinder gehandelt wird, hat Unicef 2014 einen Report veröffentlicht und argumentiert, dass internationale Adoption nur eine Option sein solle, wenn keine vergleichbaren Hilfsmöglichkeiten im eigenen Land bestünden.
Dilani Butink glaubt, dass es deswegen in vielen Adoptivfamilien zu Zerwürfnissen kommt. »Die Eltern hatten diese schöne Vorstellung - manchmal jahrzehntelang - dass sie ein Kind vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Dass das gar nicht so war und dass sie Teil von einem sehr fragwürdigen System gewesen sind, wollen sie nicht zugeben.« Deswegen sei die Beziehung zu ihrer Adoptivmutter kompliziert. »Mit meinem Vater habe ich ein sehr gutes Verhältnis. Er war auch bei meiner Suche in Sri Lanka dabei. Aber meine Mutter hat, glaube ich, den ›White Saviour Complex‹. Noch heute denkt sie, dass alles gut gelaufen ist und dann geraten wir darüber in Streit.«
Nach der TV-Dokumentation beschließt Butink 2017, gegen den niederländischen Staat zu klagen, um einerseits eine offizielle Anerkennung ihrer Adoption als unrechtmäßig und andererseits mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu erreichen. 2020 entscheidet ein Gericht beim ersten Richter*innenspruch in einem derartigen Adoptionsfall, dass der Fall verjährt sei. Die Frist dafür beträgt 20 Jahre. »Der Staat weist die Verantwortung von sich. Die Adoptiveltern hätten die Umstände prüfen müssen. Dabei hat der Staat Lizenzen an die Agenturen vergeben«, so Butink. Sie und ihre Anwältin gehen in Berufung, aktuell läuft der Fall noch. In der Zwischenzeit haben weitere Adoptierte Klage eingereicht, doch die Fälle waren noch nicht vor Gericht.
Aktuell arbeitet Butink an dem Instagram-Fotoprojekt und Podcast »Pink Cloud Project«, in dem sie erwachsene Adoptierte mit deren Babyfotos ablichtet und interviewt. Sie will, dass Menschen, die Auslandsadoptionen erwägen, selbstkritisch sind und sich fragen, ob sie einem Kind helfen wollen - oder nur dem eigenen Ego. Die zukünftige Suche nach ihren leiblichen Eltern sieht Butink skeptisch. Mit falschen Dokumenten fehlen ihr die Ansatzpunkte. Die Spuren sind einfach verwischt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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