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Antisemitismus in Berlin: Pandemie und Nahostkonflikt sind nur zwei Hintergründe
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin erreicht 2021 einen Höchststand
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin spricht von einer »traurigen Kontinuität« des alltäglichen Antisemitismus. Die Zahl der Übergriffe in Berlin hat in diesem Jahr einen Höchststand erreicht. 211 Vorfälle allein im Mai 2021 – so viele wie noch nie, seit die Meldestelle im Jahr 2015 ihre Arbeit aufgenommen hat. In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres wurden insgesamt 522 gezählt. Darunter 12 Angriffe, 22 gezielte Sachbeschädigungen, 15 Bedrohungen, 26 Massenzuschriften sowie 447 Fälle verletzenden Verhaltens – im Mai 2021 wurden jeden Tag drei antisemitische Vorfälle registriert. Bei 98 der 522 Vorfälle geht um direkt betroffene Personen, 54 von ihnen männlich, 40 weiblich, bei 34 Personen war das Geschlecht unbekannt.
RIAS Berlin stellte am 9. Dezember ihren aktuellen Monitoringbericht vor. Eine der Ursachen für die hohe Zahl an antisemitischen Vorfällen liege demnach in der Auseinandersetzung mit der Covid-19-Pandemie. 15 Prozent der dokumentierten Fälle wiesen laut RIAS einen entsprechenden inhaltlichen Bezug auf.
Eine andere Ursache sei laut der Monitoringstelle im Nahost-Konflikt zu finden: Eskaliert dort die Gewalt, schnellen auch hier die Zahlen in die Höhe. Als zuletzt bewaffnete Auseinandersetzungen im Gazastreifen am 9. Mai wieder aufflammten, zählte RIAS Berlin bis zum 9. Juni – also bis deutlich nach der Waffenruhe zwischen Hamas und Israel am 21. Mai – insgesamt 152 antisemitische Vorfälle, über 71 Prozent, mit direktem inhaltlichen Bezug zum Nahost-Konflikt. Über die Hälfte der Vorfälle im ersten Halbjahr des laufenden Jahres hatten hingegen keinen konkreten derartigen inhaltlichen Bezug. Der Alltag von Berliner Jüdinnen und Juden sei von einem konstanten antisemitischen »Grundrauschen« begleitet, schreibt RIAS Berlin.
Projektleiter Benjamin Steinitz sagte anlässlich der Vorstellung des Berichts, es seien seit Jahren in der Hauptstadt in »unterschiedlichsten politisch-weltanschaulichen Milieus Aktionspotenziale vorhanden, die jederzeit zur Mobilisierung von antisemitischem Hass auf Versammlungen aktiviert werden können«. Auf den ersten drei Plätzen liegen dabei rechtsextreme Vorfälle (20,1 Prozent), antiisraelischer Aktivismus (12,6 Prozent) sowie verschwörungsideologische Fälle (10,2 Prozent). Zwar bieten die Pandemie oder der Nahost-Konflikt »einen thematischen Hintergrund«, so Steinitz weiter. Antisemitismus sei aber »auch jenseits solcher Anlässe ein kontinuierliches Problem, welches sich in digitaler, verbaler, aber auch physischer Gewalt ausdrücken kann und so den Alltag von Juden und Jüdinnen prägt«.
Von Januar bis November 2021 seien insgesamt 281 antisemitische Fälle erfasst worden, teilte die Berliner Polizei auf nd-Anfrage mit. Inwieweit der Nahost-Konflikt eine Rolle spiele, »sagt die Statistik uns so nicht. Dazu ist eine nähere Betrachtung notwendig«, erklärt der Antisemitismusbeauftragte der Berliner Polizei Wolfram Pemp. Es seien ihm aber durchaus Fälle bekannt, die im Zusammenhang stehen.
Fälle oder Vorfälle? Das sei ein wesentlicher Unterschied, so Pemp weiter: »RIAS erfasst Vorfälle, die Polizei erfasst Fälle von Straftaten.« Deshalb könnten die Zahlen »nicht gegeneinander« betrachtet werden. »Nur wenn man sich unsere Zahlen und die von RIAS Berlin zusammen ansieht, erhält man ein gutes Gesamtbild.« Die Zahl der antisemitischen Fälle hänge auch damit zusammen, ob die Polizei diese als solche erkennt. Dazu müssten die Motive von Täter*innen ausreichend betrachtet wie auch die Opferperspektive mit einbezogen werden. »Daran arbeiten wir. Die Kolleg*innen werden geschult und weitergebildet, und wir werden immer besser«, so Pemp.
Seit dem Jahr 2016 pflegt RIAS einen systematischen Abgleich hinsichtlich angezeigter antisemitischer Straftaten mit dem Berliner Landeskriminalamt. »Dadurch können wir alle bekannt gewordenen Vorfälle in Berlin berücksichtigen, aber auch jene rausrechnen, die sowohl bei der Polizei angezeigt als auch bei uns gemeldet wurden«, sagt RIAS-Projektleiter Steinitz. »Wir erhalten so den vollständigsten Datensatz und erhellen das Dunkelfeld.«
Antisemitismus tritt auf verschiedene Weise auf. Die Bespiele im Monitoringbericht reichen von Schlägen und Tritten gegen als Jüd*innen identifizierte Menschen über den »Free Gaza«-Aufkleber am Briefkasten einer jüdischen Familie oder das Beschädigen von Stolpersteinen bis hin zu Hassbotschaften in sozialen Medien oder Transparenten. Darüber hinaus findet man Plakate bei Veranstaltungen oder Graffitis mit verschwörungstheoretischen Inhalten, die mit antisemitischen Stereotypen spielen.
Dass Ereignisse im Nahen Osten sowohl »unterschwellige antisemitische Stimmung« als auch die »offene Gewaltbereitschaft« hervorrufen, weiß auch Marina Chernivsky, Geschäftsführende Vorständin beim Verein Ofek. Anhand der bei der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung eingehenden Anfragen sehe man, dass die Art und die Häufigkeit »ein Abbild dieser festgefahrenen Situation« darstelle, so Chernivsky. »Die Welle der Gewalt im Mai 2021 betraf Jüdinnen und Juden buchstäblich auf der Straße, aber auch an Schulen, am Arbeitsplatz, in den Medien. Im gewissen Maße gibt uns das zu verstehen, dass wir auch beim nächsten Mal mit einer solchen Dynamik rechnen müssen.«
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